»Der Weg heimwärts« Monica Weber-Nau

 

 

Heimkehr

 

Der Reisende, der im Juli 1945 in Simmern, einer Kleinstadt im Hunsrück, am Bahnhof ankam, war der einzige Fahrgast, der an diesem Mittag aus dem Zug stieg. Einen Moment stand er am Gleis, schaute sich um. Unterdessen setzte sich die Lok mit schrillem Pfiff wieder in Bewegung.
Die sonnendurchflutete Bahnhofshalle war leer bis auf den Fahrkartenverkäufer, der hinter der Scheibe des einzigen Schalters saß und nun erstaunt aufschaute. Er sah den Fremden, der um sich blickend in der Halle stand, neugierig an. Der graue Anzug hing an dem hageren Reisenden, als sei er zwei Nummern zu groß. Langsam durchquerte der Fahrgast die Schalterhalle, und trat auf den Vorplatz, in die gleißende Sonne. Außer einem abgeschabten Lederkoffer hatte er nichts dabei.
Von der Heimkehr meines Großvaters Richard aus dem Exil erzählte man sich oft in unserer Familie. Und wenn ich später die Bahnhofshalle betrat, um zu verreisen, musste ich an den Alten und an seine Ankunft denken.
Schon einmal, 1921, war er auf diesem Bahnhof aus einem Zug gestiegen. Damals war er als junger Elektromonteur in die Stadt gekommen. Aber das war in einem anderen Leben. Viel war inzwischen geschehen. Die Welt von einst gab es nicht mehr, und auch er war ein Anderer geworden. Nach zwölf Jahren Exil kam er nun erneut auf diesem Bahnhof an.
Der Fahrkartenverkäufer sah dem Fremden nach, als der hinaustrat auf den Vorplatz. Er stand auf, um den Mann durch ein Fenster nochmal zu mustern. Der hatte den Koffer auf den Boden gestellt und zündete sich eine Zigarette an. Die Packung flach und leuchtend blau. Keine Amizigaretten, dachte der Bahnangestellte, vermutlich französische. Er schaute noch einen Moment auf den Mann, der rauchend vor dem Bahnhofsgebäude stand, kehrte dann schulterzuckend auf seinen Platz zurück. Was ging ihn an, wer das war. Schon lange hatte er sich abgewöhnt, allzu neugierig zu sein. Je weniger man wusste, desto besser.
Richard zog den Rauch seiner Gauloises tief in die Lungen, schaute sich um. Die halbe Welt lag in Schutt und Asche und auch hier, in der beschaulichen Kleinstadt, hatte der Krieg Verwüstungen hinterlassen. Einige Häuser neben dem Bahnhof waren zerbombt. Kurz vor Kriegsende hatten die Amerikaner ihre tödliche Fracht noch einmal über der Kleinstadt ausgeklinkt.
Richard versuchte sich zu erinnern, wer in den Häusern einst gewohnt hatte. Er kam nicht drauf. Zu lange war er schon fort gewesen. 1933 hatte man ihn hier verhaftet. Er hatte fliehen können. Nun war er zurück.
Er trat seine Kippe aus, überlegte wie Frau und Töchter ihn empfangen würden? Womöglich erkannten sie ihn nicht einmal mehr.
Die Mittagshitze ließ die Luft flimmern. Kein Windhauch regte sich. Schlaff und staubig hingen die Blätter in den Bäumen. Niemand auf der Straße, kein Vogel zu hören. Wie betäubt lag die Stadt unter der Glut des Sommers.
Er ging nochmal zurück in die Bahnhofshalle, trat an den Schalter. »Wo ist die französische Kommandantur untergebracht?« Der Fahrkartenverkäufer blickte auf. »Im Schloss.« Als er den Weg dorthin erklären wollte, schnitt der Fremde ihm das Wort ab. »Ich kenne die Stadt.« Damit verließ er die Vorhalle. Und der Mann hinter dem Schalter fragte sich, ob er den Fremden nicht doch kannte.
Der Krieg war zu Ende, offiziell seit dem 8. Mai. Bereits im März waren amerikanischen Panzer in die Stadt gerollt. Die Siegermächte hatten Deutschland unter sich aufgeteilt. In Simmern hatten im Juli, knapp drei Monate nach Einmarsch der Amerikaner, die Franzosen diese abgelöst. Simmern war nun französische Besatzungszone.
Auf seinem Weg durch die Stadt kam Richard an weiteren Ruinen vorbei. Von weitem dann sichtbar die Trikolore vor dem Schloss. Jeder, der dort vorbeikam, musste vor der Flagge salutieren. Manche nahmen lieber einen Umweg in Kauf, als die Fahne der Besatzer zu grüßen. Der Heimkehrer ging einfach daran vorbei.
Im französischen Hauptquartier legte er ein Schreiben der Sevennengemeinde Aiguefonde vor, mit dem das dortige Komitee zur Befreiung von der deutschen Besatzung bestätigte, dass Richard Fischer als Mitglied der Résistance dort gekämpft hatte.
Bienvenue mon Ami! Capitaine André Néher, der französische Kommandant, empfing den deutschen Widerstandskämpfer persönlich und ließ es sich nicht nehmen, mit ihm ein Glas Rouge auf den Sieg und das Ende der Barbarei zu trinken. Dann schickte er einen seiner Soldaten los, die Frau des Heimkehrers zu holen.
Regina bediente gerade eine Kundin in ihrem Milchlädchen, als der französische Soldat eintrat und sie aufforderte mit in die Kommandantur zu kommen. Für einen Moment war es still im Verkaufsraum. Mitleidig schaute die Kundin auf Regina, die blass geworden war. Der Befehl, sich im Hauptquartier der französischen Besatzer einzufinden, konnte alles Mögliche bedeuten. Meist nichts Gutes.
Regina überließ es Tochter Anneliese, die Kundin weiter zu bedienen, zog mit zitternden Händen die Schürze aus. Mit klopfendem Herzen folgte sie dem Soldaten. Zu oft hatte sie erleben müssen, was solche Befehle bedeuten konnten. Doch das war während der Nazizeit. Jetzt auch noch die Franzosen. Was wollten die jetzt von ihr?
Im Schloss führte man sie in ein leeres Zimmer. Kurz darauf ging die Tür auf. Vor ihr stand ein Fremder, ein Knochenmann im Anzug. »Na, mein altes Mädchen!« Da erkannte sie ihn, ihren Richard mit seinem schiefen Lächeln.
Viertausend Tage hatte sie auf ihn gewartet; hatte fest an seine Heimkehr geglaubt. »Er kommt zurück, ich weiß es.« Immer wieder hatte sie das zu ihren beiden Töchtern gesagt. Hatte die Hoffnung nie aufgegeben. Nun knickten ihr doch die Beine weg. Sie wäre gestürzt, hätte Richard sie nicht aufgefangen. Er war wieder da. Endlich. Tränen liefen ihr übers Gesicht, während er sie an seine Brust drückte.

Der Offizier, lächelnd in den Raum getreten, ließ ihr Zeit, die Freudentränen zu trocknen, verabschiedete sie dann mit festem Händedruck. Versonnen schaute er dem Paar hinterher. Er, ein Mann des Ausgleichs und der Versöhnung, freute sich, dass einer von den Anständigen zurückgekommen war.
Richard, auf dem Weg durch die zerstörte Stadt, legte den Arm um die Schultern seiner Frau. War sie noch kleiner geworden in diesen zwölf Jahren? Ihr Häuschen, so erzählte sie, habe den Krieg überstanden, sogar den Milchladen habe sie noch. Nur ein Loch im ersten Stock der Vorderfront hätte ein amerikanischer Panzerfahrer beim Einmarsch mit seinem Kanonenrohr durchbrochen, weil er kaum durch die enge Straße kam. Mit Brettern hätten sie es provisorisch schließen können. Richard lachte: »Da komme ich ja gerade richtig.«
Unruhig hatten Anneliese und Rosmarie, die beiden Töchter auf die Rückkehr der Mutter gewartet. Schauten nun ängstlich auf den Fremden, der mit ihr den Laden betrat. Misstrauisch musterten sie den hageren Mann mit den hohlen Wangen.
»Wollt ihr euren Vater nicht begrüßen«, fragte der Fremde lachend. Wortlos schauten die beiden auf den Mann, der so gar nicht wie der Vater aussah, den sie vor zwölf Jahren zum letzten Mal gesehen hatten. Zaghaft reichten sie ihm die Hand, musterten das fremde Gesicht. »Na, ihr zwei, habt ihr gut auf eure Mutter aufgepasst, während ich fort war?« Wieder das Lachen. Wortlos nickten die beiden.
Richard machte sich seine eigenen Gedanken, als er seine beiden Töchter, inzwischen junge Frauen, anschaute. War er hier überhaupt noch willkommen? Nach so vielen Jahren. Sie kannten einander doch gar nicht mehr. Vieles, zu viel hatte sich zwischen sie geschoben. Wie sollte er vom schweren Leben in den französischen Wäldern erzählen, wie den Bürgerkrieg in Spanien erklären? Woher sollten sie wissen, für wen und warum er dort gekämpft hatte? Wie konnte er die Flucht über die Pyrenäen, durch Schnee und Eis, beschreiben? Wie vom den zahllosen Frauen und Kindern, die auf dem Marsch nach Frankreich gestorben waren, verhungert, erfroren, geschwächt, von Kampffliegern erschossen. Wie vom Sterben der Kameraden im Internierungslager sprechen, und wie seiner Frau von der Kampfgefährtin erzählen, die auch seine Geliebte gewesen war?
Nur wenig Worte über all das. Erst einmal ankommen. Das Erlebte verdauen. Auch die Frauen fanden keine Sätze für das, was sie nach seiner Verhaftung erleben mussten. Das bittere Gefühl, als Nachbarn plötzlich die Straße wechselten, wenn sie ihnen begegneten oder einfach durch sie hindurchsahen. Sie fanden nicht die richtigen Sätze für die Angst vor der Gestapo, ihre Fassungslosigkeit als die Staatspolizei ihnen mitteilte, dass man dem Ehemann und Vater die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt hatte. Sie konnten ihre Verzweiflung, nicht in passende Worte fassen, nicht die grenzenlose Hilflosigkeit, als er sie alle zurückgelassen hatte, schutzlos.
Nun war er zurückgekehrt, lebte wieder in ihrer Mitte, nur, dass dazwischen zwölf Jahre eines gemeinsamen Lebens fehlten. Wie, fragte sich Regina, konnte man ihm, der so viel Schreckliches erlebt hatte, die eigenen Sorgen und Nöte erklären? Wie erzählen, dass sie an manchen Tagen am liebsten im Bett geblieben wäre, Decke über den Kopf, oder weggelaufen vor diesem ganzen Elend und dann doch weitermachte und hoffte. Warum hatte er auch damals keine Ruhe geben können?
Dass sein Widerstand richtig gewesen war daran bestand jetzt kein Zweifel mehr. Der braune Terror war vorbei. Die Menschen wechselten nun nicht mehr die Straßenseite oder schauten durch sie hindurch. Im Gegenteil. Sie grüßten wieder, betont freundlich sowieso. Alle wussten, dass Richard bei den Franzosen ein- und ausging, ein gutes Wort einlegen konnte, wenn man einen »Persilschein« brauchte. Da war es besser, sich gut mit ihm zu stellen und auch mit seiner Frau.
Und Richard machte weiter, als wäre er nie fortgewesen. In den französischen Wäldern hatte er das Köhlerhandwerk gelernt. Nun brannte er vor den Toren der Stadt Holzkohle, baute mit einem Bekannten ein Auto zum Holzvergaser um, fuhr damit zum »hamstern« über Land und brachte Reginas Krämerlädchen wieder in Schwung.
Achtzehn Jahre später, die Franzosen hatten die Trikolore schon lange eingeholt und waren in ihre Heimat zurückgekehrt, starb er. Nicht einmal siebzig Jahre war er geworden. Die Strapazen seines ruhelosen Lebens hatten seinem Körper zugesetzt.
Hager und knochig, die Wangen hohl, sein Haar schütter, so kannte ich ihn. Doch, wenn er mich auf seine Schultern setzte und mit mir ins nächste Dorf marschierte, sang er mit kräftiger Stimme, die Lieder, die er schon in jungen Jahren gesungen hatte: Völker hört die Signale … Und so lernte auch ich sie.
Als er starb, trauerte ich heftig, doch dann vergaß ich ihn fast, bis ich ihn, den Widerstandskämpfer, aus meiner Vergangenheit holte. Es machte sich gut unter linken Frankfurter Politikstudenten, einen Großvater vorweisen zu können, der keine braune Vergangenheit hatte, nicht einmal Mitläufer war, sondern gegen die Nazis und sogar gegen Franco in Spanien gekämpft hatte.
Das war damals meine Eintrittskarte in die linken Kreise, deren Revolte gegen unsere Elterngeneration und ihre »Das war schon immer so und soll so bleiben«-Haltung meiner Wut dagegen entsprach.
Ich hatte mich inzwischen über den zweiten Bildungsweg in die Universität hineingekämpft. Vorgesehen war das nicht. Die Tochter eines Schreiners unter Akademikern? Nicht einmal Großvater hätte an so etwas gedacht. Man verriet nicht seine Herkunft, und als Frau den für sie festgeschriebenen Platz erst recht nicht. Da konnte im Grundgesetz stehen was wollte. Von wegen Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Mann geht hinaus ins feindliche Leben … und drinnen waltet die züchtige Hausfrau …« Klassenkampf hin oder her. Da lebte selbst der alte Revoluzzer nach den Regeln des Patriarchats.
Und er? Er versuchte weiter die Menschen von den Segnungen einer sozialistischen Gesellschaft zu überzeugen. Von Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand für alle, davon hatte er schließlich schon als Jugendlicher geträumt.
Wenn er von seiner Kindheit und Jugendzeit zu erzählen begann, dann schaute er mit abgeriegeltem Gesicht in die Vergangenheit, vergaß alles um sich herum und verwandelte sich wieder in den Schlosserbuben der raus wollte aus seinem Elternhaus am Rande des Dorfes im Westerwald.
Wenn in den Winternächten der Sturm gegen das Fachwerk des kleinen Hauses am Ortsrand krachte, die Balken ächzten und wimmerten, als würden sie aus dem Fundament gerissen, dann erzählte er, habe er oft wach gelegen, mit knurrendem Magen auf seinem Strohsack, und darüber nachgedacht, warum seine Familie so leben musste.

 

...

 

Lebensbuch

 

Geburtstag Monica kl

 

Das Leder des blauen Albums ist rissig und abgeschabt, die Goldprägung Unser Kind auf dem Einband verblasst. Fleckig die gelb gewordenen Innenseiten, die Fotos klein und verblichen.
Erster Eintrag: 24. Februar 1951. Morgens um halb zehn ist in Simmern unsere Monica zur Welt gekommen. Sie ist mit lautem Gebrülle in das Leben eingetreten. Ein stolzer Großvater verkündet meine Ankunft mit großer Freude. Sechs Jahre nach seiner Rückkehr aus dem Exil kam ich, seine erste Enkelin, zur Welt.
Richard war begeisterter Großvater. Sang mir Polit-Lieder vor, auch die der Spanienkämpfer. Mit ihm lernte ich, nicht mal ein Jahr alt, die ersten Schritte. Wir wanderten, ich auf seinen Schultern, über Felder und Wiesen in die nächste Dorfwirtschaft. Dort trank er sein Bier, ich bekam eine Brause. Manchmal trank er ein Bier zu viel, dann legte er sich mit mir auf eine Wiese am Wegrand und wir schliefen ein, bis man uns weckte. Die ganze Familie hatte schließlich nach uns gesucht.
Einige Seiten weiter, auf Schwarz-Weiß-Fotos mit gezackten Rändern, die Bilder meines ersten Geburtstages. Es war ein Sonntag, zwei Familien waren zusammengekommen, um diesen Tag zu feiern. Tags zuvor hatte man extra das Esszimmer dafür hergerichtet. Eine große Kaffeetafel mit dem besten Geschirr gedeckt, Blumen und die erste Kerze an meinen Platz gestellt.
An einer Seite des Tischs zwei Männer, die einträchtig beisammensitzen. Der eine der Widerständler, der dem Tod mehrmals entkam und sein Leben neu zusammenbauen musste, der andere Mitläufer des Regimes, Eigentümer einer kriegswichtigen Möbelfabrik, in der nun wieder Schlafzimmer, Herren- und Wohnzimmer von Hand gebaut wurden, deutsche Wertarbeit. Hochbetten für Kasernen und Lager wurden nicht mehr benötigt.
Der eine Großvater hohlwangig, der andere wohlgenährt, noch immer mit dem Rechteck unter der Nase. Wie zum Trotz. Am Kopfende ich, die ich verwundert auf mein erstes Lebenslicht schaue.

Wie ging das damals, fragte ich mich Jahrzehnte später, wenn ich die Fotos betrachtete. Wie konnten die, die im Dritten Reich mitgejubelt hatten, und die, die damals wegen ihrer anderen Meinung eingesperrt oder außer Landes getrieben worden waren, später gemeinsam an einem Tisch sitzen, so als wäre nie etwas geschehen?

 

 

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