Literatur und Sachbuch
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»Der Vogelnarr« Gisela Bohnstedt-Hannon

 

 

1823 – Die Nachtigall

 

Der kleine Mathias ist inzwischen drei Jahre alt und hat noch zwei Brüder bekommen. Johannes ist zwei Jahre alt und Jakob gerade erst geboren.
Mathias ist ein ruhiges, aufmerksames Kind und hält sich am liebsten an der frischen Luft auf. Da seine Mutter sich mehr um die beiden Kleineren kümmern muss, schickt sie ihn meist in den Garten: »Mathias, spiel doch ein bisschen im Sandberg, den der Vater für dich hingeschüttet hat. Ein Schäufelchen ist auch dort!«
Die Kinder groß zu ziehen, gehört ebenso zu Elisabeths Aufgaben wie Kochen, Waschen, Backen, Saubermachen, oder Tiere füttern. Der Mann ist mit der Feldarbeit beschäftigt. Er verlässt das Haus am frühen Morgen und kommt oft erst am Abend zurück. Meistens schlafen die Kinder dann bereits.
Mathias läuft also zum Spielen in den Garten. Ab und zu blickt seine Mutter aus dem Fenster und beobachtet, was er tut. Der Sandberg interessiert ihn jedenfalls nicht. Er trottet quer durch den Garten und freut sich über alles, was sich dort bewegt. Er läuft den bunten Schmetterlingen hinterher und schaut zu, wie sie durch die Luft gaukeln. Einen zu fangen, glückt ihm allerdings nicht.
»Möchtest du reinkommen, Mathias?«, ruft ihm die Mutter zu, während sie den Jüngsten wickelt und dem Zweijährigen Bausteine auf den Boden zurechtlegt. Aber Mathias hört gar nicht hin.
Eine dicke Hummel ist in eine Blüte gekrochen und er wartet aufgeregt, ob sie wohl wieder daraus hervorkriecht. Schon bald findet er heraus, dass es besser ist, sich still zu verhalten, wenn man ein Tier beobachten will.
Als er in der Hecke einen Vogel zwitschern hört, weckt das seine Neugier. Elstern, Krähen und Spatzen kennt er schon, die machen nur Lärm, der sich anhört, als schimpfen sie die ganze Zeit. Aber der Vogel dort im Gebüsch kann viele unterschiedliche Lieder trällern. Es muss wohl ein ganz bunter, großer Vogel sein, vielleicht so bunt wie ein Schmetterling und so groß wie eine Taube.
Die Mutter beobachtet vom Fenster aus, wie der kleine Mathias vorsichtig in die Hecke krabbelt. Was er dort wohl will?
Sie schmiert ein Butterbrot für ihn und geht mit Johannes an der Hand und Jakob im Wickeltuch in den Garten. Als sie an der Gartentür steht, hat Mathias gerade den Vogel entdeckt, der so schön singen kann. Aber wie enttäuscht ist er! Der Vogel ist ganz klein und so braun wie die Erde. Er ist nicht einmal so schön wie ein Spatz. Als die Mutter näherkommt, reißt sich Johannes von ihr los und läuft freudestrahlend zum Sandhaufen, da fliegt der kleine Vogel erschreckt davon.
»Oh, das war eine Nachtigall«, sagt die Mutter und versteht nicht, weshalb ihr Mathias so enttäuscht aussieht. »Sie kommt schon wieder, Mathias, wenn alles still ist.«
Vor dem Schlafengehen nimmt die Mutter die Zither, setzt sich an das Bett ihres Ältesten und singt ihm das Lied von der Nachtigall vor:
»Sitzt a klans Vogel im Tannenwald
tut nichts als singä und schrein.
Was mags fürn Vogel sein,
der so schön singt und schreit.
s‚wird wohl eine Nachtigall sein, juchhe.
s‚wird wohl eine Nachtigall sein.«

Ein paar Tage später, an einem schönen Frühlingsmorgen, nachdem die Kraniche zurückgekommen sind, sagt der Vater: »Heute geht es zum Schafewaschen an die Mosel.« Die acht Schafe werden aus dem Stall gelassen und die ganze Familie, der Knecht Justus und der Hund Harras machen sich auf den Weg. Justus kümmert sich um den Hund und die Schafe. Der Vater zieht einen Handwagen hinter sich her, in dem der zweijährige Johannes sitzt. Die Mutter trägt ihren Kleinsten im Wickeltuch.
Mathias sitzt ab und zu mit Johannes im Handwagen, aber den größten Teil des Weges läuft er.
Er ist sehr aufgeregt. Zum ersten Mal geht es zum Dorf hinaus, durch die Felder, in Richtung Sürsch, wo hoch in den Lüften die Bussarde und Milane kreisen. Es kommt ihm vor, als würden sie eine Weltreise machen. Ein Mann kommt ihnen auf dem Feldweg mit einem Esel entgegen, der mit einem schweren Sack beladen ist. Der Vater hält ein kurzes Gespräch mit ihm, während Justus und der Hund weitergehen. Harras ist ein guter Hütehund. Er passt auf, dass keiner aus der Reihe tanzt, umkreist ständig die kleine Herde, um sie zusammenzuhalten. Bald gelangen sie ins Mühlental, eine felsige, bewaldete Schlucht, die steil bergab führt. Links des Weges fließt der Bach, der von einigen Mühlen bis ins Moseltal hinunter genutzt wird.
Mathias beobachtet begeistert, wie das Wasser auf die oberste Schaufel des Mühlrades fließt und sie so lange füllt, bis das Gewicht sie nach unten kippt. Anton Wolf versucht seinem Ältesten zu erklären, dass die Mühlräder dafür sorgen, dass Öl aus dem Raps gepresst oder Mehl aus den Körnern gemahlen werden. »Der Junge versteht das noch nicht«, meint Elisabeth. »Muss er auch nicht. Er soll ja kein Müller werden«, entgegnet Anton.
Mathias gefällt es, dass das Mühlrad nicht aufhört, sich zu bewegen und eine Schaufel Wasser nach der anderen ausgießt. Es plätschert angenehm.
»Komm schon, Junge, wir können nicht ewig hier stehen bleiben!«, fordert der Vater und zieht ihn an der Hand mit sich.
Mathias entdeckt beim Weitergehen mitten im Bach einen Vogel mit weißer Brust, der regungslos auf einem Stein steht. Plötzlich aber fällt er ins Wasser und ist verschwunden. Mathias ruft erschreckt: »Der Vogel ist weg!« und zeigt auf den Stein, dort, wo er das Tier zuletzt gesehen hat.
Justus, der mit den Schafen vor ihm geht, begreift sofort, was geschehen ist, denn auch er hat den Vorgang beobachtet. Er dreht sich um und beruhigt den Dreijährigen: »Du brauchst keine Angst zu haben, Mathias. Das war eine Wasseramsel. Sie kann schwimmen und tauchen. Sieh mal, da ist sie schon wieder!«
Tatsächlich taucht der Vogel mit der weißen Brust wieder auf und hat einen Wurm im Schnabel.
Plötzlich scheinen sich die Felswände auseinander zu bewegen. Die Mutter sagt: »Schau mal! Da unten, das ist die Mosel.« Mathias erblickt zum ersten Mal das Moseltal, durch das sich der Fluss langsam dahin schlängelt. Die Sonne scheint und das Wasser glitzert wie ein silbernes Band. Dieser Anblick prägt sich dem kleinen Mathias so fest ein, dass er ihn nie im Leben vergessen wird. Je näher sie dem Tal kommen, desto weiter wird der Blick, als würde sich ein Bühnenvorhang Stück für Stück öffnen.
Am Ende des Mühlentals kommen sie in Kattenes an. Die gewaltige Landschaft mit dem herrlichen Fluss und den steilen Weinbergen am anderen Ufer breitet sich nun ganz vor ihnen aus. Oben auf den Weinbergen erhebt sich die Doppelburg Thurandt. Zum ersten Mal begreift der Dreijährige, dass es noch viel mehr und viel Größeres auf der Welt gibt als das kleine Dörfchen Mörz.
Die Schafe werden zum Moselufer getrieben. Ins Wasser wollen sie nicht freiwillig gehen. Justus und der Vater holen ein Schaf nach dem anderen ins Wasser, um es zu waschen. Einer hält es fest und der andere beseitigt vorsichtig den Schmutz mit den Händen aus dem dicken Fell. »Warum werden die Schafe gewaschen?«, fragt Mathias und beobachtet, wie das Wasser in die Wolle dringt und die Schafe wie aufgeblasen aussehen. Die Mutter schmunzelt: »Die Schafe sind schmutzig und haben Zecken. Sie müssen aber sauber sein, bevor sie geschoren werden.« Es dauert eine Weile, bis die acht Schafe gewaschen sind.
Die Mutter geht inzwischen mit den Kindern am Ufer entlang. Johannes quengelt, er ist müde. Aber Mathias hört der Mutter zu: »Sieh mal! Da schwimmen Fische.« Sie wirft ein Stück altes Brot auf das Wasser. Er kreischt, als er sieht, wie ein Fischmaul über der Wasserfläche erscheint und den Brocken wegschnappt. Einen Fisch hat er noch nie zuvor gesehen. Ein Angler, der nicht weit von ihnen entfernt in einem Kahn sitzt, hat gerade einen dicken Barsch gefangen. Dessen Rückenflosse hat sich wie ein kleiner Fächer aufgestellt. Er zappelt noch an der Schnur.
»Du bist ein anständiges Mittagessen«, sagt der Angler, zieht den Fisch vom Haken, schneidet ihm mit einem Messer den Kopf ab, schlitzt den Bauch auf und wirft die Eingeweide zurück in den Fluss. Harras bellt, als müsse er hinterherspringen und jemanden retten. »Aus!«, ruft der Vater. Der Angler wirft dem Hund den Fischkopf zu, der sich schwanzwedelnd darauf stürzt. Dann rudert der Mann zum anderen Ufer hinüber, nach Oberfell, dort, wo die Burg Thurandt und die alte Wallfahrtskirche auf dem Bleidenberg zu sehen sind.
Der Heimweg durch das steile Mühlental ist recht beschwerlich. Der Vater muss Johannes und Mathias in den Handwagen setzen, denn sie können den sehr steilen Anstieg mit ihren zwei und drei Jahren noch nicht allein bewältigen. Die Mutter mit dem Jüngsten im Wickeltuch muss öfters stehenbleiben und tief Luft holen. Der einzige, der sich richtig austobt, ist Harras. Er treibt die blökenden Schafe, die noch tropfnass sind und eigentlich recht erbärmlich aussehen, mühelos das steile Mühlental hinauf, als wäre es die einfachste Sache der Welt.

 

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