Literatur und Sachbuch
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»Knast oder Heimat?« Thomas Galli

Totschlag im Flüchtlingsheim

I.

Ich freute mich riesig mit Aman, dem Eritreer, einem der freundlichsten Menschen, die ich kannte. Er war als Flüchtling anerkannt worden und hatte eine Lehrstelle als Bäcker bekommen. Seine Frau, die auch aus Eritrea kam und die er im Flüchtlingsheim kennengelernt hatte, war im fünften Monat von ihm schwanger.
Dann jedoch kam die Ladung des Gerichts.

 

II.

Er hatte mir von seiner Heimat erzählt, einer Heimat, wie sie jeder hat. Es schmerzte ihn fürchterlich, sie verlassen zu müssen, so wie es wohl jeden schmerzen würde. Nicht wenige zogen auch ein Leben in Leid und Not und manchmal sogar den Tod einem Leben in der Fremde vor. Heimat war für sie wie eine Mutter, die man nicht verlassen konnte, auch wenn sie einen noch so schlecht behandelte, und die man noch so wenig liebte – vielleicht sogar hasste. Aman aber wollte leben. Er war nicht dumm genug, sich einzufügen, und nicht bösartig genug, um sich auf die Seite der Macht zu stellen.
So musste er endgültig aus Eritrea fliehen, als er, wie jeder junge Mann und auch jede junge Frau seines Alters zum Nationaldienst, einer Art Wehr- und Arbeitsdienst, eingezogen werden sollte. Die Dauer dieses Dienstes war faktisch unbegrenzt. Manche mussten bis an ihr Lebensende Nationaldienst leisten. Jemand wie Aman würde zu den unangenehmsten und gefährlichsten Tätigkeiten herangezogen werden. Zum Kampfeinsatz im ständig schwelenden Krieg gegen Äthiopien, zur Reinigung der Latrinen der Parteifunktionäre, zur Einäscherung der Leichen, die dieser Staat täglich im Überfluss produzierte. Der Lohn für diesen Dienst war so gering, dass er nicht zum Überleben reichte. Nicht zum Überleben als Einzelner, und erst recht nicht, um eine Familie zu ernähren.
Es half Aman nichts, dass er zur Schule gegangen war. Es hätte ihm geholfen, wenn sein Vater ein ranghohes Mitglied in der Partei von Präsident Afewerki gewesen wäre, der seit 1993 an der Macht war und einer sogenannten Übergangsregierung vorstand. Aber Amans Vater lebte nicht mehr. Er war ein anständiger Mensch gewesen. Anständig und klug, und damit arm und machtlos. An der Macht waren bösartige Menschen, aber sie waren nicht sehr viele. Das größere Problem, fand Aman, waren die vielen dummen Menschen. Diese profitierten von der Macht der Bösen, und die Bösen stützten ihre Macht auf sie. Ein teuflischer Pakt. Die Bösen konnte man vielleicht bekämpfen, aber die Dummen waren zu zahlreich, und alle Wut und Aggression lief bei ihnen ins Leere. Man konnte sie nicht überzeugen, nur manipulieren, wie es die Bösartigen taten. Und je länger die Bösen an der Macht waren, desto mächtiger wurden die Dummen, und die Dummheit erstickte allen Geist, alles Leben und alle Entwicklung. Sie lähmte und vergiftete das Land und die Menschen, und es würde viele Generationen dauern, bis sich sein Volk davon erholen könnte.

 

III.

Jedes Schreiben von Gericht und Behörden löste bei Aman immer noch Urängste aus. Er hatte in Deutschland gelernt, dass Richter und Beamte keine schlechten Menschen waren. Dass sie unbestechlich waren, objektiv entschieden, und dass niemand von der Polizei gefoltert oder umgebracht wurde. Aber so oft ihm dies auch von allen Seiten, von den Betreuern im Flüchtlingsheim, von seinen Kollegen bei der Arbeit und von deutschen Freunden aus seiner Fußballmannschaft gesagt wurde: Die Angst vor staatlicher Gewalt würde er nie wieder loswerden – das Gefühl, den eigenen Staat zum Feind zu haben, einen Staat, der sich an keine Regeln hielt, und der keine Grenzen kannte. Dieses abstrakte Gebilde, das den barbarischen Urtrieben des Menschen hemmungslos ihren Lauf ließ, und mehr als das, ein staatliches System, das diese Urtriebe förderte und manchmal sogar erzwang. Die einen erpressten, folterten, ermordeten – aus perverser Lust oder Gier nach Macht und Reichtum. Die anderen taten dies aus purer Angst, sonst selbst ermordet zu werden, oder aus der nackten Not, sonst verhungern zu müssen.
Amans Vater war von einem Tag auf den anderen verschwunden. Nachbarn hatten Amans Mutter erzählt, dass Polizisten ihren Mann auf der Straße verhaftet hätten. Sie hatten ihn nie wiedergesehen und nie herausfinden können, wohin er gebracht worden war. Auskünfte bei der Polizei oder bei den Gefängnissen, bei denen sie nachfragten, gab es nur gegen Geld. Geld, das die Familie nicht hatte.
Amans Familie war nicht die einzige, der es so erging. Im Gegenteil. Er kannte keine Familie, bei der nicht irgendein Familienmitglied spurlos verschwunden oder ermordet worden war – von Soldaten, Polizisten, Geheimdienstmitarbeitern, oder von Gewalttätern, bei denen keiner genau sagen konnte, welcher Organisation sie angehörten. Vielleicht war Amans Vater völlig zufällig ins Visier der Polizei geraten. Nicht selten nahm diese willkürlich Personen fest, um von ihnen oder ihren Angehörigen Geld zu erpressen. Dagegen sprach, dass sich nie jemand an Amans Familie gewandt hatte, um Geld für die Freilassung des Vaters zu fordern. Meist wurden die Gefangenen allerdings gefoltert, um die Zahlungsbereitschaft zu erhöhen und um Angst und Schrecken zu verbreiten. Vielleicht war Amans Vater, der schon länger an Herzproblemen litt, dabei gestorben. Die Ungewissheit darüber, was mit ihm geschehen war, wirkte schlimmer, als jedes Wissen über sein Schicksal es je gekonnt hätte. Aman war erst neun oder zehn, als das passierte, und dass sein Vater durch einen brutalen und herzlosen Staat, dem man völlig hilf-, macht- und rechtlos gegenüberstand, entrissen worden war, prägte Aman für sein Leben.

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