Literatur und Sachbuch
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»Kriemhild und ihre Brüder« Holger Höcke


Zittern und Furcht

 

Kriemhild fuhr hoch.
Ein Geräusch war da. Ein Geräusch in der Frauenkemenate.
Benommen richtete sie sich auf. Schemenhaft kamen ihr die Ereignisse des Abends zu Bewusstsein. Das Festmahl. Der Mord. Der Zwerg.
Ihre Augen waren verklebt, müde und überreizt vom langen Wachsein, und ließen sich kaum öffnen. Als sie sie aufschlug, sah sie etwas, das nicht in die Kammer gehörte. Da stand jemand. Unmittelbar vor ihrem Bett. Ein Zittern überfiel ihren Körper. Sie schluckte, schloss die Augen und wusste doch, dass das nichts helfen würde.
Es war Alberich, der sie mit einem lüstern-neugierigen Blick musterte. Kriemhild riss den Mund auf, wollte um Hilfe rufen – und brachte doch keinen Laut hervor. Sie wollte hinüberschauen zu ihrer Mutter, doch die Kreatur stand im Wege. Das Zittern wurde so heftig, dass sie ihren Körper nicht mehr unter Kontrolle hatte. Voller Furcht schlug sie die Hände vor die Augen, riss sich die Bettdecke über den Kopf und stieß in Gedanken ein Stoßgebet hervor: Oh, bitte lass es nur einen Traum sein! Ja, gewiss, das ist nur ein Albtraum, wenn ich die Augen öffne, ist wieder alles in Ordnung ... lieber Gott!
Am ganzen Körper bebend streckte sie vorsichtig den Kopf heraus.
Der Zwerg war fort.


 

 


Zwölf und einer

 

Giselher keuchte.
Wie das brannte in den Oberschenkeln! Wie das Schwert rieb am linken Knie und Schmerzen verursachte. Wie der Atem rasselte. Wie das Gesicht rot und röter wurde und der warme Schweiß unterhalb des Helms die Stirn und die Nase hinunterlief. Der junge König spürte einen salzigen Tropfen auf der Oberlippe und leckte ihn ab. Der Schweißtropfen: genau wie vor einigen Wochen, dachte er, beim Zweikampf Hagens mit dem Monstrum. Er redete sich ein, dass die winzige Menge Flüssigkeit ihm Kraft gebe, und lief weiter, immer weiter durch die Felder und Flure, hinter sich die Hauptstadt Burgunds. Ziel war das Wäldchen auf der Anhöhe bei dem kleinen Weiler Pfeddersheim. Weiter, weiter, weiter, für Burgund, für das gute Ziel: ein kraftvoller Mann zu werden, ein Kämpfer aus Eisen und Leder, unbesiegbar.
Als er das Wäldchen erreicht hatte, hielt er an einer knorrigen Eiche inne. Er gönnte sich nur eine kurze Verschnaufpause, verschränkte die Hände über einem niedrigen Ast und zog sich in voller Rüstung ächzend hoch, ein-, zwei- dreimal, vier-, fünf-, zehnmal, fünfzehnmal.
Dann ließ er sich auf der Stelle zu Boden fallen, drehte sich auf den Rücken, schnaufte wie ein Ross und blickte hinauf ins maigrüne frische Laub des alten Baumes.
»Sehr gut!«, sagte er laut. »Drei mehr als beim letzten Mal!«
Er warf den Helm ab, zog das schwere Kettenhemd und auch den Waffenrock aus und schnallte den Gürtel mit der ledernen Trinkflasche ab. Zufrieden lehnte er sich mit dem Rücken an den Baumstamm. Erst jetzt, nach etwa acht Meilen Laufen in voller Rüstung gönnte er sich einen tiefen Zug stark verdünnten Weines.
Sein Blick schweifte übers frühlingshafte Land. Unten im Feld arbeiteten Bauern, einer sang eine Volksweise. Sie bereiteten ein großes Feld für die Saat vor, befreiten es von großen Steinen, die sie auf zwei Ochsenkarren luden. Längst hatten sie ihn bemerkt, ließen hin und wieder ihre Blicke zu ihm schweifen. Da er seit einiger Zeit zwei- oder sogar dreimal die Woche hier heraufkam, war ihnen sein Gebaren nicht fremd. Sie deuteten auf ihn, redeten miteinander und auf einmal löste sich einer aus der Gruppe und kam langsam den Hügel herauf. Als er auf ein paar Schritte herangekommen war, neigte er demütig das Haupt, und Giselher winkte ihn freundlich heran. Was konnte dieser Mann wollen?
»Erlaube, Herr«, fing der Mann unsicher an. Auf das Nicken seines Königs fuhr er selbstbewusster fort: »Ich will ohne Umschweife fragen, Herr Giselher: Gibt es ... Krieg? Wir machen uns Sorgen.«
Krieg, wiederholte Giselher in Gedanken und sprach laut aus, was er dachte: »Das ist eine gute Frage ...«
Seit jenem denkwürdigen Abend vor einigen Wochen, als die sächsische Delegation zu Gast war, die sächsischen Schnüffler sollte man vielleicht besser sagen, war nichts Entscheidendes mehr geschehen. Burgund und der Königshof waren wieder zur Ruhe gekommen – wenngleich es eine gespannte Ruhe war. Giselher spürte, dass der Bauer ihn neugierig anblickte, doch seine Gedanken schweiften zurück zu dem Festabend.
Der Zwerg war verschwunden – und blieb verschwunden. Eine Begegnung der sonderbaren Art – wie ein Nachtmahr. Tags darauf hatte Giselher mit Kriemhild gesprochen, sie hatte ihm von ihrer nächtlichen Erscheinung erzählt. Er hatte die geliebte Schwester in den Arm genommen und ihr übers lange Haar gestrichen, so wie sie es früher mit ihm getan hatte. Er hatte sie getröstet, betont, es sei nichts als ein böser Traum gewesen. Kriemhild hatte aufgeschluchzt und gesagt, es gebe zu viele böse Träume in Burgund in diesen Tagen. Hagen hatte von einer Tarnkappe gesprochen, einer Zauberkraft aus dem Nibelungenland, die Alberich die Macht verleihe, zu erscheinen und verschwinden, wie es ihm behage. Fürwahr, sonderbare Zeiten!
Rätselhaft blieb der Mord an Gebhard – und der überstürzte Aufbruch der Sachsen. Gunther hatte eine bewaffnete Reiterschar hinterhergeschickt, doch diese konnte das Schiff nicht mehr erreichen, Grund war Hochwasser am Mittelrhein, das die Uferstraßen überflutet hatte. Das Schiff war fort. Darauf wollte Gunther eine Delegation nach Sachsen schicken, doch Hagen riet ab.
Plötzlich sah er, dass der Bauer ihm die beiden Hände, gefüllt mit Walnüssen aus der Ernte des Vorjahres, entgegenstreckte. Giselher hielt ihm seinen Helm hin und scheppernd fielen die Nüsse hinein. Er nickte dankbar. Dann fiel ihm die Frage des Mannes wieder ein. Offenbar hatte sich die Begebenheit am Hof im Lande herumgesprochen.
»Krieg«, wiederholte er und zuckte mit den Schultern. »Wer weiß das schon?«
»Ich sehe dich so oft hierher kommen, sehe, wie du den Körper härtest und für den Ernstfall Kräfte sammelst, Herr ... da dachte ich, na ja ... und landauf, landab wird halt geredet ...«
Giselher überlegte, wie er dem Bauern die Situation erklären konnte, ohne ihn zu beunruhigen.
»Wir müssen gerüstet sein!«, antwortete er. »Ein Land muss wehrhaft sein. Es ist niemals auszuschließen, dass es Krieg gibt.« Dann beschloss er die Wahrheit zu sagen: »Vielleicht wird der Heermeister die Streitkräfte durch Truppenaushebungen verstärken. Auch unter der Bauernschaft. Mehr steht noch nicht fest.«
»Aber die Felder, die Saat ...«, protestierte der Mann schwach.
Giselher stand auf. Er fühlte die Hitze in seinem Körper, fühlte sich selbst mit einem Mal sicher und stark, jedem Unbill zu trotzen, obgleich er wusste, dass die Armee Burgunds derzeit in einem eher erbärmlichen Zustand war. Wegen des Jahrzehnte dauernden Friedens gab es im Heer kaum jemanden mehr, der über Kampf­erfahrung verfügte.
»Geh und hole mir zwei Steine vom Feld«, befahl er.
»Steine?«
»Die größten, die ihr gefunden habt. Zwei Stück.«
Der Bauer tat wie geheißen und wenig später stärkte Giselher mit zwei kopfgroßen Steinbrocken eine Weile seine Oberarm- und Schultermuskulatur. Der Bauer ging weiter seiner Arbeit nach, und ermüdet lehnte sich der junge König wieder an den Baum. Er knackte die Nüsse zwischen den Handballen und aß sie alle auf, stillte seinen Durst und trank die Flasche leer. Die Sonne verschwand hinter aufgezogenen dicken grauweißen Wolken und er wurde schläfrig und bemerkte nichts. Nichts von dem, was im Wald hinter ihm vorging.

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