Literatur und Sachbuch
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»Keine 50 Pfennig wert …« Josef Lubig

 


Geboren wurde ich am 31.3.1940 in Alfter. Der Ort liegt am Westhang des Vorgebirges, das zu Nordrhein-Westfalen gehört. Das Vorgebirge lehnt sich nach Süden hin an die Voreifel an, die dann übergeht in die Eifel.
Innerhalb der Grenzen befindet sich ein zweiter Ort mit dem Namen Olsdorf und dort wohnte ich mit meinen Eltern und meinen zwei Geschwistern. Dieser Ort war nie unabhängig, sondern mit dem bedeutenderen Pfarr­ort Alfter verschmolzen. Der westlich vom Dorfkern Alfters gelegene Ort wurde erstmals im Jahre 1148 urkundlich erwähnt. Die Leute, die dort wohnten, fühlten und handelten wie eine verschworene Gemeinschaft. Kein noch so großes Geheimnis blieb verborgen. Jeder half jedem. Man war für einander da, man bot sich Hilfe an, wann immer man konnte. Soweit es die damaligen Mittel zuließen. Es war eine arme Zeit. Wir wohnten zur Miete und meiner Mutter und meiner älteren Schwester – sie wurde am 31.3.1936 geboren – erging es wie anderen hunderttausend Familien auch, bei denen der Vater fehlte, weil er an der Front war. Neben unserem Haus stand in einem Park eine wunderschöne alte Villa. Es war das prächtigste Haus im ganzen Ortsteil, gebaut aus rotem Backstein und mit Erkern und Giebeln reichlich verziert. Ein großer alter Baumbestand verschönerte den Park. Da es das stabilste Bauwerk war, wurden in den Kellergewölben Luftschutzräume eingerichtet, die bei Luftangriffen von der Bevölkerung aufgesucht wurden. Um die Kellergewölbe zu stabilisieren, hatte man mit runden Fichtenhölzern die Decken gestützt. Während diesen unerfreulichen Zusammenkünften lernte ich den Sohn der Villa kennen, welcher von nun an mein bester Freund war. Ich nannte ihn ­»Lillimütze«, obwohl sein Name Helmut war.
Die Villa wurde von mehreren Verwandten des Hausherrn bewohnt, die sich immer rührend um mich kümmerten, wenn Lillimütze mich zum Spielen mit nach Hause nahm. Er besaß ein ausgestopftes Pony, das ihm als Schaukelpferd diente. Und das größte Vergnügen war, wenn seine Oma mich hochhievte und ich auf dem selbigen schaukeln durfte. Es bereitete mir großes Vergnügen, wenn ich ihm mit meiner Hand durch seine Mähne fahren und ihm seinen Hals klopfen konnte. Es war kein Stoffpony. Es besaß ein richtiges Fell. Man hatte es, nachdem es verendet war, präpariert. Im Spielplan mit einbegriffen war auch meistens ein Besuch bei einem Onkel meines Freundes, der in der Villa ein Erkerzimmer bewohnte. Ich kannte ihn nicht anders, als dass er in seine Bücher vertieft war. Da er eine Behinderung hatte, war er die meiste Zeit zu Hause. Er konnte wunderbare, fesselnde Geschichten erzählen und wusste viel von der Welt und den Menschen. Wenn die Leute aus der Nachbarschaft Rat suchten, gingen sie zu ihm hin und ließen sich belehren. Da dieser Mann von kleinwüchsiger Gestalt war und sich sehr schlecht fortbewegen konnte, gab man ihm den Spitznamen »Utze«. Sein richtiger Name war allerdings Hans. Da ich oft das Vergnügen hatte bei ihm sein zu können, war ich später in der Lage jede seiner einzelnen Bewegungen und Schritte nachzuahmen. Den Erwachsenen aus der Nachbarschaft gefiel das so gut, dass sie mich bei jeder Gelegenheit dazu aufforderten und mich baten ich solle mich nochmals wie der Utze fortbewegen. Mein Vater erzählte mir mal von einem Unfall mit einem Hanomag-Pkw, auch Kommissbrot genannt, den ein Bekannter besaß. Dieser lud den Utze zu einer Spritztour ein. Da man wegen überhöhter Geschwindigkeit die Kurve nicht bekam, überschlug sich der Wagen und blieb auf dem Dach liegen. Als die Leute zusammenliefen und den zwei Verunglückten Hilfe anboten, verschlug es ihnen die Sprache. Sie waren in dem Glauben der Utze hätte sich so schwere Verletzungen zugezogen, dass bei ihm sämtliche Knochen zu Bruch gegangen wären. Aber das Einzige was zu Bruch gegangen war, war das Kommissbrot.
Viele alte Fachwerkhäuser zierten die Dorfstraße. Die meisten Leute lebten von der Landwirtschaft. Da im Vorgebirge ein guter Lößboden war, erzielte man immer gute Ernten. Es wurde alles angepflanzt was wetterbedingt wuchs. Jeder Einzelne war darauf bedacht gute Qualität auf den Markt zu bringen, um gute Gewinne zu machen. Der Boden war für den Spargelanbau ideal, sodass er in größeren Mengen angepflanzt wurde. Der Ort war weit über seine Grenzen hinaus bekannt aufgrund dieses guten Spargels.
Uns gegenüber wohnte in einem alten Fachwerkhaus ein Mann, der sich der Blumenzucht widmete und seine Ware an Blumenhändler verkaufte. Er war von zierlicher Gestalt. Er glich eher einem Liliputaner. Ich kannte ihn nicht anders, als in seinem grünen Anzug und seinem grünen Hut. Auch er hatte einen Spitznamen. Wir nannten ihn das »Hinneschen«. Wenn er seinen Blumenkarren mit Blumen beladen hatte, musste er höllisch aufpassen. Er durfte sie keinen Moment aus den Augen lassen. Bei jeder Gelegenheit lagen wir Kinder auf der Lauer, um ihm seinen Blumenkarren in irgendeiner Scheune oder auf irgendeinem Hof zu verstecken. Selbst einer seiner Neffen fand an dem Spiel gefallen und mischte kräftig mit. Nur unser Vergnügen zählte. Das wir ihn damit sehr kränkten, war uns nicht bewusst. Auch die anderen Nachbarn blieben nicht verschont und wurden reichlich mit Späßen bedacht. Oberhalb der Dorfstraße stand ein großes Steinkreuz, das mit einem halbhohen Eisengitter umfriedet war. Dort war der Treffpunkt für uns Kinder. Hier wurden Streiche ausgeheckt und beschlossen, wer das nächste Opfer sein sollte.
Gegenüber vom Kreuz wohnte unser Erzfeind. Er wurde von allen »Dämesse Mathes« genannt, was soviel heißen sollte wie dämlicher Mathias. Er ließ keine Gelegenheit aus, um uns in die Schranken zu weisen. Ein Spielkamerad, der geistig etwas zurückgeblieben war, wurde von uns besonders grausam behandelt. Wir zogen ihm seine Mütze aus und alle Jungen pinkelten hinein. Anschließend banden wir ihm mit einer Kordel einen großen Ast um den Bauch. Dann bekam er das Kommando loszurennen. Wie ein geölter Blitz wurde er die Dorfstraße rauf und runter gehetzt. Dem neckischen Spiel wurde Einhalt geboten, als seine Mutter aufkreuzte und uns ordentlich in die Schranken wies.
Als Kinder freuten wir uns immer auf den Winter. Unsere Dorfstraße bot mit ihrem Gefälle ideale Möglichkeiten zum Schlitten fahren. Bis zur Dunkelheit durfte ich mit meiner Schwester draußen bleiben. Wir waren natürlich darauf angewiesen, dass man uns mitnahm, weil wir keinen eigenen Schlitten besaßen. Als Gegenleistung mussten wir immer den Schlitten den Berg hochziehen. Der Schlitten bestand aus zwei selbstgemachten Kastenschlitten und einer Bohle von ca. drei Metern Länge. Viele Kinder fanden darauf Platz. Bei solch einer Abschussfahrt, bei der der Schlitten umkippte, wurde meiner Schwester oberhalb der Lippe eine große Platzwunde zugefügt. Meine Mutter war natürlich von solchen Eskapaden nicht begeistert, da ein Arzt oder ein Krankenhaus schwer zu erreichen war.
Die Freundin meiner Schwester nannten wir »Klötzchen«, obwohl sie Katharina hieß. Sie verpasste immer den Moment, wo es nötig war, den Plumpsklo aufzusuchen. Wenn sie auf der Straße mit uns spielte, rief sie ganz laut: »Mutter! Ich muss drieße.« Ihre Mutter rief zurück: »Dann drieß‘ in die Botz.« (drieße = scheißen; Botz = Hose) Jetzt ging Katharina zur erstbesten Treppe, setzte sich hin und schiss in die Hose. Da sie einen harten Stuhlgang hatte, blieben kaum Spuren in ihrer Unterhose. Anschließend kam ihre Mutter, schüttelte den harten Stuhlgang aus der Hose und zog sie ihr wieder an.
Klötzchens Onkel besaß einen landwirtschaftlichen Betrieb. Ich betrachtete ihn als meinen älteren Freund und ich durfte ihn sogar duzen. Wann immer sich die Gelegenheit bot, fuhr ich mit ihm in den Wald Holz machen oder zu seinen Feldern, auf denen er Obst und Gemüse anpflanzte. Während der Fahrt ließ er mich auf seinem prächtigen Ochsen reiten. Dieser Ochse hatte es in sich. Obwohl Ochsen normalerweise träge und stur sind, nahm es dieser Ochse im normalen Schritt mit jedem Pferd auf. Wenn ihm während der Arbeit der Pflug zu schwer wurde, ließ er sich einfach fallen und blieb liegen. Auch der Stock und gutes Zureden halfen in diesem Fall nicht. Er stand erst wieder auf, wenn es ihm passte. Mein Freund und ich hingen sehr an dem Tier, doch eines Morgens als mein Freund in den Stall kam, war der Ochse spurlos verschwunden und ist nie mehr aufgetaucht.
Zu Erwähnen wäre noch die »lange Berta« aus unserem Dorf. Sie war Krankenschwester beim Roten Kreuz. Sie kam mir vor wie der Koloss von Rhodos. Es war eine unheimlichePerson von Figur und Größe. Es machte ihr nichts aus im Krieg einen verwundeten Soldaten über die Schulter zu nehmen und zum Verbandsplatz zu tragen. Sie rauchte leidenschaftlich gerne dicke Zigarren. Zudem besaß sie den einzigen Kolonialwarenladen in ganz Olsdorf. Ich habe sie Jahre später bei einem Karnevalsumzug wieder gesehen. Sie hatte sich in die Uniform des Baron von Münchhausen gezwängt und schritt paffend mit einer dicken Zigarre im Mundwinkel daher.
Da wir uns im Krieg befanden, mussten wir oft nachts, wenn die Sirenen heulten, unsere Wohnungen verlassen. Es war ein heilloses Durcheinander, wenn wir innerhalb weniger Minuten den Luftschutzkeller in der Villa aufsuchen mussten. Bei dieser Aktion wurde meine Mutter von der Tochter des Hauswirts kräftig unterstützt. Sie half meiner Schwester und mir aus den Betten und zog uns das Nötigste an. In der Zwischenzeit raffte meine Mutter die Sachen zusammen, die man im Luftschutzkeller brauchte. Zwischen uns und der Familie bei der wir wohnten herrschte ein inniges Verhältnis. Die Tochter kümmerte sich viel um uns und half meiner Mutter wann immer sie Zeit hatte. Da ich nicht das bravste Kind war und darüber hinaus helle Haare hatte, nannten sie mich »greiser Lump«. Das war jedoch nicht böse gemeint, denn im Grunde genommen mochten sie mich alle. Im Luftschutzkeller hatte jeder den Platz einzunehmen, den der Luftschutzwärter einem zuwies. Er war auf jede Situation vorbereitet und wusste wie zu handeln war, wenn zum Beispiel der Strom ausfiel. Er half den älteren Leuten, die bibbernd und betend auf dem Boden saßen. Sämtliche Gerüche waren in dem Keller wahrzunehmen. Die angenehmsten, die man herausschnuppern konnte, waren die Düfte der Fichten mit denen der Keller gestützt wurde und nach Harz rochen. Man konnte diesen Luftschutzkeller nicht eher verlassen, bis Entwarnung gegeben wurde.
Einmal wurde bei einem Luftangriff ein deutscher Bomber vom Feind abgeschossen. Er kam von Osten und wollte in Richtung Westen fliegen. Brennend stürzte er oberhalb des Ortes in ein dichtes Waldstück. Obwohl die lange Berta und andere Leute wenig später an der Absturzstelle ankamen, um zu retten was noch zu retten war, gab es von der vierköpfigen Besatzung nur einen Überlebenden. Da es Nacht war und aufgrund der Gefahr weiterer Luftangriffe kein Licht gemacht werden durfte, war die Suche sehr schwierig. Der Überlebende hatte sich zwischenzeitlich abgesetzt und suchte das in der Nähe gelegene Haus auf um dort Hilfe zu holen. Um unsere Neugier zu stillen, machten wir Kinder uns am nächsten Tag auf, um die Absturzstelle zu besichtigen. Am Ortsausgang benutzten wir einen Pfad, der durch die anliegenden Gärten zum Waldrand hinaufführte. Hier gab es Gärten mit Kirschen, Pflaumen und leckeren Pfirsichen. Auch wurden hier Stachelbeeren und Johannisbeeren angepflanzt. Im Sommer wurden diese Gärten gerne von uns Kindern aufgesucht – zum Ärger der Besitzer. Da sie das Geld aus dem Erlös der verkauften Waren dringend brauchten, brachte es sie sehr in Rage, wenn sie bestohlen wurden. Wenn sie einen von uns erwischten, bezog dieser eine ordentliche Tracht Prügel. Als wir jedoch zu dem Flugzeug kamen, wurde unsere Neugier im Keim erstickt. Im Cockpit des abgestürzten und ausgebrannten Bombers befanden sich die verkohlten Leichen der restlichen Besatzung. Durch die enorme Hitze waren sie zusammen geschrumpft. Es kam mir vor als wenn es Kinder gewesen wären. Etwas Grauenvolleres hatte ich bis dahin noch nicht gesehen. An der Absturzstelle steht auch heute noch ein Holzkreuz mit der Inschrift: »Hier fiel am 16.12.1944 ein deutscher Flieger.«
Dagegen war es harmlos anzusehen wenn die gefangenen Russen, Polen und Serben – da die gefangenen Russen, Polen und Serben auch zur Zwangsarbeit verpflichtet wurden, mussten sie während des Kriege den alleinstehenden Frauen, deren Männer an der Front waren, bei der Feldarbeit helfen – die Essensreste aus der Gosse aufsammelten und aßen. Diese Ration kam ihnen aber nur zuteil wenn die Hausfrauen nach dem Mittagessen den Abwasch machten. Es befanden sich dann meistens kleine Reste auf den Tellern und in den Schlüsseln. Da es zu dieser Zeit keine Kanalisation gab, gelangten diese Abfälle durch ein Rohr, das vom Haus direkt nach draußen in die Gosse führte. Es war strengstens untersagt den Gefangenen Essbares zu reichen. Bot sich daher irgendeine Gelegenheit, steckte man ihnen Brot oder Kartoffeln zu.

 

Vor dem Krieg war es im Vorgebirge sehr schwer, ein Grundstück zu erwerben, denn der Preis spielte eine entscheidendeRolle. Mein Vater kaufte eine Parzelle im Wald, da diese etwas billiger war. Er war ein kräftiger Mann und rodete mit Muskelkraft den Wald. Auch andere Leute waren darauf angewiesen, das Gleiche zu tun. Er zog einen Zaun um das Grundstück und bepflanzte es mit Erdbeeren. Der Kampf mit der Natur begann als die Erdbeeren Früchte trugen. Unter dem Zaun begannen Hasen und Kaninchen ihre Löcher zu buddeln um an die Früchte zu gelangen. Von oben kamen Elstern, Eichelhäher und Amseln. Alle ernteten mit, obwohl sie nicht gepflanzt hatten. Der größte Feind beim Pflücken waren aber die Pferdebremsen. Sie bevölkerten im Sommer zu tausenden den Wald. Selbst die Rückepferde im Wald waren von solchen Stichen nicht begeistert, geschweige denn die Menschen. Nach jedem Stich bedankte sich die Haut mit einer starken Rötung und schwoll an. Bei einem dieser Ernteeinsätze besuchte uns die Schwester meiner Mutter mit ihrem Sohn. Mein Vetter war vier Monate jünger als ich. Als wir nach getaner Arbeit die Erdbeerkörbe in den Handwagen am Wegesrand verluden, kam ein Bauer mit seinem Gaul an uns vorbei. Er führte das Tier an der Leine. Das Unheil nahm seinen Lauf. Eine Bremse stach den Gaul, er scheute, trat aus. Das Huf traf genau das Kinn meines Vetters, der wie ein gefällter Baum umkippte. Der Huf des Pferdes hatte ihm eine Platzwunde am Kinn eingebracht. Er wurde auf den Handwagen geladen und zum Arzt gefahren, wo die Wunde genäht wurde.
Als die Amerikaner Mitte 1945 die Küste Frankreichs erreichten, befand sich mein Vater bei einer Flakeinheit in der Normandie. Sie mussten sich durch den großen Druck immer mehr nach Osten zurückziehen. Es mag Zufall gewesen sein oder das Glück spielte eine große Rolle, denn seine Einheit sollte in Bonn mit ihren Flakgeschützen den Rhein überqueren und nach Osten verlegt werden. Hatte er nachgeholfen oder war es wirklich Materialermüdung? Soldat war mein Vater nur mit Widerwillen. Auch seine übrigen Brüder waren nicht in der Partei und das Nazi-Regime war ihnen verhasst. Hätte ihr gemeinsamer guter Freund, der spätere Rechtsanwalt Willi Knott und Landrat des Sieg-Kreises sich vor dem Krieg nicht für sie eingesetzt, hätte man sie vielleicht alle ins KZ gesteckt. Als seine Einheit von Köln aus kommend den Bonner Verteilerkreis erreichte, brach an der Deichsel des Flakgeschützes ein Bolzen. Das Geschütz musste von der Zugmaschine abgekoppelt werden. Bei dieser Gelegenheit machte mein Vater dem Zugführer klar, dass er sich im Raum Bonn bestens auskenne. Ja, er versprach ihm, er kenne eine Werkstatt, die das Flakgeschütz wieder in Ordnung bringen könnte.
Später erzählten mir Bekannte, dass er von seinen Brüdern der Verwegenste und ein Draufgängertyp war, der vor dem Teufel keine Angst hatte und es mit jedem aufnahm, der sich ihm in den Weg stellte. Ich kann es bestätigen, denn ich habe es in meiner Kindheit unzählige Male am eigenen Leib zu spüren bekommen.
Das Versprechen sich um das Flakgeschütz zu kümmern, hielt er nicht. Er setzte sich ab und ließ das Flakgeschütz stehen. Da seine Einheit weitergezogen war, desertierte er. Eines Nachts klopfte es an unsere Tür. Meine Mutter öffnete, fiel fast in Ohnmacht und konnte nicht fassen, dass er vor ihr stand. Er erklärte ihr, dass der Krieg für ihn zu Ende wäre. In der gleichen Nacht beschloss er, im Wald in einer dichten Tannenschonung ein Loch auszugraben und dort solange auszuharren bis der Krieg zu Ende sei. Einen seiner Brüder, der nicht Soldat war – er war in der Rüstungsindustrie beschäftigt – unterrichtete er von seinem Plan. Sie kannten jeden Quadratmeter Wald und wussten genau, welche Stelle für das Vorhaben geeignet war. Mit Spaten und Pickeln machten sie sich auf die Erdhöhle auszuheben. Morgens wurde die Arbeit eingestellt, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen.
Mein Onkel verließ meinen Vater und versprach ihm am Abend mit Lebensmitteln und heißem Kaffee zurückzukehren. Außer ihm und meiner Mutter wusste keiner etwas von diesem Plan. Als die Dunkelheit einsetzte machte sich sein Bruder wieder auf den Weg, um ihn bei seiner nächtlichen Arbeit zu unterstützen. Um die Spuren des Aushubes zu verwischen, bat mein Vater ihn, er möge doch beim nächsten Mal zwei Weidenkörbe mitbringen, damit man den Aushub in weitem Umkreis verstreuen konnte. Jede Unachtsamkeit hätte nämlich nicht nur zum Versteck geführt, sondern auch in den sicheren Tod.
Als nach einigen Nächten der Unterschlupf fertig war, beschloss man an einer bestimmten Stelle im Wald, die nur die beiden kannten, einen toten Briefkasten anzulegen. Jetzt konnte man sich Nachrichten übermitteln und Essbares und Getränke deponieren. Am Tag verließ mein Vater nur selten sein Versteck um nicht aufzufallen. Nachts vertrat er sich die Füße und traf sich hin und wieder mit seinem Bruder. In das Loch, das er benutzte um in die Erdhöhle zu kommen, zog er jedesmal von außen nach innen einen abgeschlagenen Tannenbaum, mit dem er das Loch verschloss. Da die Amerikaner täglich näher rückten, war es eine Frage der Zeit, wann der Krieg zu Ende war. Auf diesen Tag musste er warten und ausharren. Geduld und Stehvermögen besaß er definitiv.
Der Vormarsch der Amerikaner ging zügig weiter und am 8. März 1945 marschierten sie in unser Dorf ein. Mein Onkel suchte meinen Vater im Wald auf und brachte ihm neue Sachen zum Anziehen. Man beschloss, dass er sich am darauf folgenden Tag bei der amerikanischen Kommandantur melden sollte. Diese befand sich in der Alfterer Dorfschule. Dort verhaftete man ihn und Tage später wurde er mit mehreren anderen auf einem Lastwagen der Armee weg gefahren. Obwohl dies bei Nacht geschah, ahnte er, wo man sie hinbrachte, da er sich in der Umgebung sehr gut auskannte. Sie wurden in einen großen Tanzsaal, der zu einer Raststätte gehörte, gebracht. Beim Überprüfen seiner Papiere stellte sich heraus, dass er keiner Partei angehört hatte. Nach vierzehn Tagen Gefangenschaft entließ man ihn. Er war ein freier Mann, er konnte nach Hause gehen. Für ihn war der Krieg endlich beendet.

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