Literatur und Sachbuch
 presse

»Lily« Ronald Goffart

 

 

– 0 –

 

Sie war gerade dreizehn Jahre alt geworden.
Noch nicht junges Mädchen, nicht mehr ganz Kind. Vor vier Wochen hatte sie Geburtstag gefeiert, ohne Prunk und ohne Tusch, aber mit überschwänglich zugewandten Eltern. In der Unschuld jenes Alters, in dem alle Möglichkeiten zum Greifen nah sind, jedoch allzu bald am Galgen des Schicksals baumeln sollten!
Auf den Schultern ihres geliebten Vaters sitzend, sah sie heute zu, wie unter der warmen Maisonne die Soldaten vorrückten, mit ihrem eher lässigen Gang.
Sie zogen an ihrem Haus vorbei, beladen mit der gesamten Ausrüstung, den Helm leicht schräg, sofern sie ihn nicht einfach am Koppelgurt befestigt hatten.
Denn damals zog – entgegen der landläufigen Meinung – ein Großteil der deutschen Armee zu Fuß in den Krieg, ihre treuen Gäule im Gefolge. So war der Durchschnittssoldat mit Patronentaschen, Bajonett, Feldspaten und Brotbeutel behängt und trennte sich weder von seiner groben Decke, noch von dem unvermeidlichen Erbstück der Schützengräben des Jahres 14: seiner Gasmaske. So herausgeputzt, den Karabiner Mauser 98 über der Schulter, brachen dutzende junger Infanteristen auf. Unbeschwerten Gemüts zog es sie in einen Krieg, den sie zwar für ebenso unbeschwert hielten, doch auf den sie vielleicht gern verzichtet hätten …
Auf ihrem Ausguck befand sich Lily wahrscheinlich nicht ganz auf derselben Höhe wie der berittene Offizier vor jedem Trupp. Was sie allerdings nicht daran hinderte, ein Meer lächelnder Gesichter zu erspähen. Keines verriet Entsetzen, sondern allenfalls das Bewusstsein, wo jene hingehen und was sie dort tun würden.
Denn da waren leider die staubbedeckten Knobelbecher, ebendieselben, deren Nägel auf dem Pflaster des Petit Vinâve dröhnten, so dass der Bürgersteig vor dem Geschäft erzitterte. Und das war eher beunruhigend!
Wessen Vorstellungskraft hätte damals erraten können, wie sehr ihr nicht endenwollender Vorbeimarsch alles ins Wanken bringen würde? Lilys jedenfalls nicht. In diesem Augenblick klammerten sich ihre Hände an die des Vaters, die ihr Sicherheit gaben. Die stärker waren als alles. Liebevoller als alles sonst.
Sie wusste nicht, dass ihr Leben und die Welt in die Hölle hinabstürzten, eine Hölle, wie nur die Menschen sie erfinden können!

 

 

 

– 1 –

 

»Wo ist Mama denn geblieben?«
Ja, wo war sie geblieben, Elisabeth, dass sie sich nicht zu ihnen auf den Bürgersteig gesellte? Lilys Beunruhigung über die Abwesenheit ihrer Mutter war allerdings nur der Vorwand, um sich der Anwesenheit ihres Vaters zu versichern. Ihre Größe und ihr Gewicht hatten dessen Rücken kapitulieren lassen, und dann hatte sie sich ganz nach vorn gezwängt.
Die Antwort ließ auf sich warten. August wollte zuerst den Arm um seine Nutsch legen, als letzte Schutzhülle für die Unschuld seiner Jüngsten. Der Älteste blieb zurückhaltend. Blieb im Hintergrund, wie es seine Art war, jedoch verdutzt über die Kraftentfaltung, der er von der erhöhten Ladenschwelle aus zusah.
»In der Küche. Sie scheint uns allein zu lassen.«
In der Tat. Ihre Mutter blieb dieser Art der Unterhaltung fern. Eine schlichte Frau, die sich nur um schlichte Dinge und vor allem um niemanden bekümmerte. Jedenfalls nicht, um schlecht von ihm zu reden oder ihn zu kritisieren. Sie trug einen tiefen Glauben vor sich her, mit allen dazugehörenden Merkzeichen und Schutzwällen, manchmal sogar Scheuklappen.
Mit ihren siebenundvierzig Lenzen hatte sie die Lage bereits erfasst, als der Rundfunk den Ausbruch des Krieges verkündete. Wieder einmal musste man sich auf Entbehrungen gefasst machen!
Doch zum ersten Mal würde nicht nur sie davon betroffen sein. Mittlerweile waren zwei Kinder zur Welt gekommen, Lily und ihr Bruder Joseph. Wie sollte man sie schützen? Wie dafür sorgen, dass sie normal aufwuchsen, trotz der Ereignisse? Wie ihnen zu verstehen geben, dass diese vorbeimarschierenden Männer nichts anderes waren als Unglücksboten?
Wiederum kam ihr Glaube ihr zuhilfe. »Unser Herrgott wird uns schon helfen«, wiederholte sie des Abends, als ihr Mann die Beunruhigung teilte. Beim Essen ritzte die Klinge ihres großen Messers ein unvergängliches Kreuzeszeichen in die Rinde des Brotes, ehe sie es in Scheiben schnitt; denn auf ihren Herrgott konnte sie sich immer verlassen.
War er nicht auch schon in der Mangelzeit nach dem Ersten Weltkrieg in Anspruch genommen worden, als sie Tag für Tag in der Umgebung ihres Dorfes Schmithof über Land ging, um auf ihre Weise zu schmuggeln? Denn die Familie brauchte schließlich etwas zu essen. Es war ihr damals recht und schlecht gelungen, auf den Bauernhöfen einige Dienste oder Strickarbeiten gegen Eier oder Milch zu tauschen und so etwas heim zu bringen, um die hungrigen Mäuler zu stopfen: das ihres Vaters, eines Waldhüters, der dem Trunk sehr zugetan war, und das ihrer Mutter, einer Hausfrau, die mit ihren zehn Fingern so geschickt war wie kaum jemand sonst. Dieser Gabe wegen hatte sie übrigens den ersten Krieg in einer Fabrik zugebracht, in der Uniformen für die Soldaten des Kaisers hergestellt wurden.
Die Zeiten waren also nicht immer rosig gewesen für Elisabeth. Doch sie hatte sogar den Zug genommen, um in noch größerer Entfernung die begehrten Lebensmittel aufzutreiben. Selbst die neue Grenze überschritt sie dabei, denn seit 1919 gehörte die Region Eupen-Malmedy infolge des bekannten Versailler Vertrages zu Belgien.
Auf diese Weise kreuzte sich eines Tages auf einem Bahnsteig ihr Weg mit dem eines höflichen und lustigen jungen Mannes. Er war auf dem Heimweg nach Malmedy, wo er als Angestellter bei der Eisenbahn arbeitete. Sie gefielen einander auf Anhieb, doch die Heirat würde auf sich warten lassen, weil Elisabeth ihre Mutter nicht mit einem Säufer allein lassen wollte. Am 21. April 1923, endlich, wurde Fräulein Hansen dann Frau Pierry und überquerte endgültig die Eifel, um sich am Rande der Ardennen in einer kleinen Stadt niederzulassen, die sie im Laufe ihrer Stelldicheins kennengelernt hatte wie ihre Westentasche.
Da also diese Soldaten höchstens ihre allerschmerzhaftesten Erinnerungen hervorkramen konnten, interessierten sie sie kaum. Auch wenn sie die Schaufenster des Spielzeugladens erzittern ließen.
Das Gerücht hatte gleichwohl auch ihr Ohr erreicht. Andere Uniformen waren vom Venn herabgekommen und zogen durch das Tal von Bévercé in die Stadt ein.
Diese hier kamen von Baugnez herunter.
Fast fünf Jahre später würden andere Soldaten in der Kälte und dem dichten Nebel einer abscheulichen Schlacht versuchen, denselben Weg zu nehmen. Die befreite Stadt würde sie nicht vorüberziehen sehen.
Diese Revanchisten würden jedoch gar soweit gehen, GI-Uniformen überzustreifen und einen weißen Stern auf ihre Ausrüstung zu malen. Es würde nichts helfen. Ihre Spezialeinheit würde daran scheitern, Malmedy in die Zange zu nehmen. SS-Obersturmbannführer Skorzeny würde auf den Widerstand der – diesmal echten – Amerikaner stoßen, die sich an den Eingängen der Stadt wieder organisiert hatten, nachdem der andere SS-Obersturmbannführer Peiper und seine Leute es einige Tage eher vorgezogen hatten, sie zu umgehen und an den Hängen des Tales das wohlbekannte düstere Andenken zu hinterlassen.
Doch jetzt, im Frühjahr 1940, hatte der Krieg noch nicht vom Blut der Metzelei geleckt. Alles vollzog sich in einer gewissen Sorglosigkeit. Begeisterter Frohsinn schien gar einige Gaffer zu packen, die extra auf die Straße hinuntergegangen waren, um den Vorbeimarsch zu feiern. Lily stutzte. Ihr Land, Belgien, hatte eigene Soldaten, doch die glänzten durch Abwesenheit, und das schien jene Anhänger nicht zu stören.
Welch merkwürdiges Schauspiel, als einige von ihnen einem Uniformierten um den Hals fielen oder den Ankömmlingen Blumen oder Biergläser darbrachten! Hier und dort tauchten gar schwarz-weiß-rote Fähnchen mit jenem primitiven Kreuz auf, das ihr so aggressiv vorkam. Sie hatte sie schon hinter Vorhang- oder Türspalten erspäht. Heute prangten sie alle ganz offen, am helllichten Tag.
Wer war es, der sie so reckte? Die Leute von der Partei, ganz ohne Zweifel. Mitglieder der Heimattreuen Front, die schon trunken waren von der Naziideologie. Diese Rasenden der ersten Stunde fantasierten seit Jahren ihren »Anschluss« herbei. Heute würde Hitler ihn ihnen bringen, ganz sicher. Malmedy würde heimkehren ins Reich, wieder deutsch werden. Für tausend Jahre sicherlich.
Was mochten sie empfinden, Kinder wie Lily und Joseph, die von der stillen Vergangenheit und einer unvorstellbaren Zukunft nichts wussten?
Kein Zweifel, ihre Augen leuchteten trotz alledem, so wie die aller Kinder, die sie aufsperren, wenn eine Uniform vorbeikommt, gleich welcher Farbe oder Form. Lily hatte vielleicht eine unbestimmte Unruhe im Herzen. Normalerweise bedeckte kein Feldgrau die Straßen, schon gar nicht im Mai.
Im Frühling ergrünen die umliegenden Wälder lieber in allen Farbtönen, und die Feldwege der Umgebung sind von ebenso unscheinbaren wie leuchtenden Blumen gesäumt. Trug dieser ganze griesgrämig-graue Strom nicht den Keim einer noch makabreren Traurigkeit in sich? Wenn die an den Röcken tanzenden Waffen anfangen würden, den Tod zu bringen?
Doch das Grauen sollte erst noch kommen …

 

 

zum Buch

Aktuelles von und
für die Presse

facebookHier gehts zu unserer Facebook-Seite, auf der immer die aktuellen Neuigkeiten zu finden sind.

linie-klein

 

Tamar Dreifuss erhält den
Giesberts-Lewin-Preis >>
 

linie-klein

 
Ute Bales ausgezeichnet mit dem Martha-Saalfeld-Förderpreis 2018 des Landes Rheinland-Pfalz für »Bitten der Vögel im Winter« >>

linie-klein

 

Alle Umschlagfotos gibt es hier >>

linie-klein

Pressetexte >>

linie-klein

Hier gibts Leseproben zu unseren Neuerscheinungen  >>

linie-klein

facebook

nachricht

bookshop

instagram

 

  Links
Plan Buch
Edition Schrittmacher
Clara-Viebig-Gesellschaft
 trennstrich

RMV-Werbung
Anfahrt
Jobs
Presse

 trennstrich

Buchhandel
Auftragsproduktion

Videos
Impressum

 trennstrich   Rhein-Mosel-Verlag
Brandenburg 17
56856 Zell/Mosel
Tel: 06542/5151
  rmv-Logo