Literatur und Sachbuch
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»Wir lachten oft und gern« Harald Orth

 

 

1. Die frühen Jahre

 

Das Rheintal liegt herrlich in der Morgensonne, als Leopold Hermann mit seinen beiden Söhnen zum »Rittersturz« aufbricht, einem beliebten Ausflugsziel der Koblenzer. Hans und Kurt sind elf und zehn Jahre alt. Etwas ist anders dieses Mal. Johanna fehlt, ihre Mutter, und das hat einen Grund. Die beiden Jungen haben eine Idee, verraten aber nichts. Sie sind gespannt, was ihr Vater sagen wird. Vielleicht auch: wie er es sagt. Der Anstieg in den Stadtwald ist für die Hermanns ein Kinderspiel. Sie kennen den Weg und lieben die Aussicht. Neuerdings führt sogar eine Seilbahn hinauf zu dem Hotel mit seiner Panorama-Terrasse. Hier werden 20 Jahre später die Väter und Mütter des Grundgesetzes zusammenkommen. Bis dahin wird noch ›viel Wasser den Rhein hinunterlaufen‹ – niemand kann ahnen, was die Familie erwartet. Die Hermanns sind Juden. Deutsche mit jüdischen Wurzeln.
Die »liebe Mutti«, wie sie vom Vater und den Söhnen genannt wird, ist zu Hause geblieben. Warum eigentlich? Leo, wie ihn seine Verwandten und Freunde nennen, hat eine wohl überlegte Antwort parat. »Wir erwarten Besuch«, erklärt er. Ein Fabrikant aus Krefeld mit dem er zusammenarbeite, komme heute vorbei. Daher sei Johanna in der Küche beschäftigt. Leo malt das Ganze mit dem Hinweis auf die von allen geschätzte gefüllte Kalbsbrust aus. Trotzdem befindet Kurt im Nachhinein kurz und bündig: »Es war eine Ausrede.«
Denn ihm und seinem Bruder ist längst aufgefallen, dass ihre Mutter in den letzten Wochen etwas »rundlicher« geworden ist. Auf dem Spaziergang zeigt der Vater plötzlich ein ganz außergewöhnliches Interesse an den Vorgängen in der Natur. »Er machte uns auf das Treiben der Insekten und Schmetterlinge aufmerksam, und wie die Blüten von ihnen auf der Suche nach Honig besucht, und wie der Blütenstaub auf die Stempel kommt und so Fruchtbarkeit erzeugt wird. Ganz langsam kam dann die Schwangerschaft unserer Mutter zur Sprache.« Mir kommt dabei in den Sinn, wie zaghaft die Bemühungen um sexuelle Aufklärung gewesen sind: Noch Jahrzehnte nach diesem Spaziergang hat sich unser Religionslehrer im Gymnasium an das Thema herangetastet, indem er zu unsrer Überraschung schlicht eine Schallplatte von Bienen und Schmetterlingen erzählen lässt … Für Hans und Kurt ist schon lange klar, dass nicht der »Klapperstorch« die Kinder bringt; »es war wirklich rührend, wie unser Herr Papa sich bemühte es uns schonend beizubringen.« Der Rückweg geht schneller vonstatten; Leo mit seiner dunklen Hornbrille und den runden Gläsern, einem schwarzen, etwas spärlichen »Schnäuzer«, erhöht das Tempo – ein vielversprechendes Mittagessen und den Gast wollen sie nicht warten lassen. Schließlich sind alle voll des Lobes über Johannas Kochkunst.
Anfang Juni begleitet Leo seine Frau, zum »Kaiserin-Augusta-Wöchnerinnen-Heim am Koblenzer Moselring. Johanna, ist vor der Geburt ihres dritten Kindes 38 Jahre alt. Fotos zeigen sie mit leicht gewellten dunklen Haaren und einem dezenten, freundlichen Lächeln. Die Tage im Wöchnerinnen-Heim vergehen langsam. Die ganze Familie wartet gespannt auf das freudige Ereignis. Am 12. Juni 1928, einem Dienstag, ist es so weit: Ein gesundes Mädchen erblickt das Licht der Welt. Vater und Mutter sind stolz und erleichtert, ihr Kind in den Armen zu halten. Die Eltern geben ihrer Kleinen den Namen Hannelore, und die Jungen brennen regelrecht darauf, das »Nesthäkchen« endlich daheim begrüßen zu können. Kurt denkt noch nach vielen Jahren an dieses Ereignis und die folgende Zeit zurück: »Bald drehte sich der ganze Haushalt um das neue Familienmitglied. Wir stritten uns um das Recht mit dem neuen Kinderwagen spazieren zu gehen und beim Babybaden mussten wir natürlich auch dabei sein.«

 

Für die Familie ist die Geburt der kleinen Hannelore 1928 das große Ereignis. Einige andere, subjektiv ausgewählt, zeigen uns, was damals Schlagzeilen gemacht hat:
– Mit der »Europa« und der »Bremen« laufen die größten jemals in Deutschland gebauten Passagierschiffe vom Stapel;
– In den USA wird das Penicillin entdeckt;
– Brechts »Dreigroschenoper« hat ihre Uraufführung in Berlin;
– Erste Rede Hitlers im voll besetzten Berliner Sportpalast: »Die allgemeine Enttäuschung konnte fast Mitleid erregen«, kommentiert die liberale Frankfurter Zeitung.
– Ein Ereignis, wie ein fernes Wetterleuchten, weit entfernt vom Alltag und Leben der Hermanns.

 

*

»Wurzeln« der Familie

 

Leo nennt seine Heimat liebevoll »unser Ländchen«. Es ist die hügelige, grüne Landschaft zu beiden Seiten des Limes im Rheinland, genauer im Taunus. Dort lebt seine Familie im Dörfchen Obertiefenbach. Seit mehreren Generationen betreiben die Hermanns Landwirtschaft, während nahe Verwandte ihren Lebensunterhalt als Viehhändler oder Kleinkaufleute verdienen. Leo hat sechs Brüder die, seit früher Jugend gewöhnt sind kräftig anzupacken, wenn es nötig gewesen ist. Das war es auf dem Land in christlichen wie in jüdischen Familien fast immer.
Als Deutsche in den 30er Jahren vermehrt anfangen »Ahnenforschung« zu betreiben, tut Leo das auch und findet heraus, dass seine Vorfahren bereits mit den Römern ins Rheinland gekommen sein können. Als jüdische »mercatores«, Kaufleute, hätten sie sich dann um die Bedürfnisse der römischen Soldaten gekümmert, als »Heer-männer«. Kurt meint, der Name »war jedenfalls älterer deutscher Herkunft, so wie mein Klassen- und Geschichtslehrer in der Tertia sagte, als der meines Klassenkameraden und Nazi Przsevlocka. Das half aber nichts. Jud ist Jud. Die jüdische Familie ist im »Ländchen« fest verwurzelt. Sie arbeitet wie ihre christlichen Nachbarn auf dem Land hart für das tägliche Brot. Besonders eng sind die Beziehungen der Koblenzer Hermanns zu einer Schwester von Großmutter Regina, Amalie, geborene Ackermann, in Ruppertshofen. Dort, bei den Blumenthals, sind Hans und Kurt von Kindheit an oft und gerne. Sie lieben das Herumtollen in der freien Natur und schätzen die herzliche Art ihrer Verwandten. Noch nach vielen Jahren erinnert sich Kurt an die »gute Stube« bei den Großeltern. An den Wänden hängen Bilder von gefallenen Söhnen, »komplett mit Pickelhaube und Eisernem Kreuz.« Von den sechs Brüdern Leos haben zwei ihr Leben verloren für »Kaiser und Vaterland«. Allzu bald wird der Tod von 10.000 jüdischen Soldaten auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs für Deutschland verdrängt und vergessen sein.
Leos jüngerer Bruder Hugo überlebt als Unteroffizier die Schrecken der Front; ausgezeichnet mit dem Eisernen Kreuz kehrt er nach Hause zurück. Geholfen haben ihm weder der Einsatz für sein Heimatland noch der Tapferkeitsorden.
Nach dem Krieg arbeitet einer von Leos Brüdern auf dem Hof in Obertiefenbach als Landwirt. Davor hat er einige Zeit in Singhofen verbracht, an der »Bäderstraße«, die Bad Ems und Wiesbaden verbindet. Alfred, der jüngste der Hermann-Brüder, gilt in der Zeit als Hans und Kurt ihn kennen- und schätzen lernen, den einen als »Lausbub«, den anderen als »Don Juan« …
Mütterlicherseits stammen die Hermanns aus Siegburg. Johannas Vater besitzt in der Siegburger Luisenstraße Nr. 28 eine gut gehende Metzgerei und Wurstfabrik. Auch ihre Mutter stammt aus einem wohlsituierten Haus. Johanna hat eine Schwester, Jenny, und einen jüngeren Bruder, Ludwig.
Den Kontakt zu den Großeltern im Taunus und in Siegburg pflegen die Koblenzer Hermanns intensiv. Die Kinder halten sich oft bei Großeltern, Onkeln und Tanten, den Cousins und Cousinen, auf. In Siegburg erinnert sich Kurt besonders gern an den Mann von Tante Jenny. Er ist kein Jude und arbeitet als Gefängniswärter. Er nimmt sich, wenn sie zu Besuch kommen, viel Zeit für die Jungen. In besonders lebhafter Erinnerung bleiben Kurt die Fahrten auf dem Motorrad. Meistens aber geht es mit der Familie »in de Bösch, bei de Böm,« wie der Onkel zu sagen pflegt. Spazierengehen mit ihm und seiner Familie ist für Kurt in Ordnung; aber die Jugendlichen wollen dennoch viel lieber zum Schwimmen an die Sieg oder zur Agger, immer begleitet von dem sorgenvollen Hinweis der Großmutter: »Denkt daran, Wasser hat keine Balken!« Die Jungens nehmen es gelassen und haben jede Menge Spaß.
Abgesehen von Ausflügen nach Bad Münster am Stein oder dem idyllischen Miltenberg am Main – »ich erinnere mich bis heute an die Schönheit des Städtchens« zieht es die Hermann-Jungen in den Ferien vor allem zu den Großeltern im Taunus. Unvergessen sind die Fahrten mit der Kutsche, der »Kalosche«, über Land, zu den Dörfern in der Umgebung von Obertiefenbach. Dort gibt es zur Erntezeit immer etwas zu tun. Hans und Kurt packen gern mit an. Aber es gilt erst einmal zu den Großeltern hinzukommen! Das ist jedes Mal ein kleines Abenteuer: mit der Bahn in den Taunus fahren. Vor allem Kurt hat es genossen, wie aus seinen anschaulichen Zeilen von diesem kleinen Abenteuer heraus zu lesen ist: »Da fuhr man zuerst nach St. Goar, dann mit der Fähre über den Rhein nach St. Goarshausen und dann mit der Kleinbahn (Bimmelbahn genannt wegen der Glocke an der Lokomotive), die nach Nastätten fährt, bis Bogel … Komischerweise erinnerte ich mich an die Bimmelbahn Jahre später auf der Hedschasbahn auf dem Weg nach Damaskus und Bagdad. Das war auch eine Schmalspurbahn von Haifa durch die Yesreel-Ebene und das Jordantal bis Zemach und von dort durch das Yarmuk-Tal hinauf in die Syrische Hochebene. Aber die Lokomotive bimmelte nicht und konnte nicht sprechen, wie die auf der Steigung hinauf in den Taunus: ›wir packens nit, wir packens nit‹, bis das ›Stöhnen‹ die Steigung hinauf dem erleichterten ›Mir ham’s gepackt, mir ham’s gepackt‹ gewichen ist. Selbst die Personenwagen haben es buchstäblich in sich. Durch die losen Bretter ihrer Fußböden konnte man die Schienen sehen, und zu beiden Seiten der Bänke standen die Körbe der Bauersleute, aus denen Kindern während der Fahrt mancherlei Leckerbissen angeboten wurde.«

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