Literatur und Sachbuch
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»Wer erschossen wird, ist selber schuld!« Hubertus Becker

 

 

Verbrecherjagd

 

Um das, was ich zum Fall des Dieter Freese aus eigenem Erleben erzählen kann, nachzuvollziehen, müssen wir zurück ins Jahr 1962 gehen. Am 14. Februar dieses Jahres verübte eine fünfköpfige Bande einen bewaffneten Raubüberfall auf die Sparkasse von Winningen an der Mosel. Der Anführer der Räuber war ein aus der ehemaligen DDR stammender »Gewohnheitsverbrecher«, wie er seinerzeit in den Medien bezeichnet wurde. In Wahrheit war er ein traumatisierter Junge, der im Alter von drei Jahren seinen Vater im 2. Weltkrieg verloren hatte.
Dieter Freese wurde im Jahr 1939 in Samtens auf der Insel Rügen geboren. Zu seiner Mutter, die kurz nachdem sein Vater in Russland gefallen war, eine weitere Ehe einging, konnte er nie eine vertrauensvolle Bindung aufbauen. Den Ersatzvater lehnte er ab, seinen jüngeren Stiefbruder quälte er mit sadistischem Vergnügen. Im Alter von sechs Jahren gaben die Eltern ihn in ein Heim nach Stralsund, nachdem er die Kaninchen seines Stiefvaters misshandelt und ertränkt hatte. Weil die Betreuerinnen im Kinderheim Schönenwalde mit dem schwierigen Jungen nicht klarkamen, überwiesen sie ihn noch vor Kriegsende in die »Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt« nach Ueckermünde. Dort wurde er im Alter von sieben Jahren von einem Gärtner sexuell missbraucht, doch er verdankte diesem Mann, der im Krieg ein Bein verloren hatte, sein Leben. Die Nazis schickten nämlich regelmäßig »behinderte oder schwer erziehbare« Kinder in die Euthanasie-Anstalten Bemburg und Kosten, wo sie ermordet wurden. Der »pädophile Krüppel«, so Freese später im Gespräch, habe ihn vor diesem Schicksal bewahrt, ehe der Krieg zu Ende ging und die russischen Besatzer dem braunen Spuk ein Ende bereiteten.
Dieter Freese kam im Alter von 8 Jahren zu einer Pflegefamilie in Brandenburg. Die Schule besuchte er insgesamt fünf Jahre lang. Mit 13 lief er von zuhause fort, wurde von der DDR-Volkspolizei aufgegriffen und in einen Jugendwerkhof eingewiesen, wo es den Kindern selten gut ging. Nachdem er im Alter von 17 Jahren entlassen wurde, streunte er eine Weile in Mecklenburg herum. Er bewarb sich bei der französischen Fremdenlegion, wurde aber aus Altersgründen nicht aufgenommen. Da er keinen Beruf erlernt hatte, bestritt er seinen Lebensunterhalt durch kleine Diebstähle und Betrügereien. Irgendwann plante er, seine Mutter auf Rügen zu besuchen, aber die Familie war in die Bundesrepublik übergesiedelt. Ob ihn das bewogen hat, ebenfalls in den Westen zu gehen, kann ich nicht sagen, jedenfalls verließ er die DDR einige Jahre vor dem Bau der Mauer. Er landete im Ruhrgebiet, wo er in Gelsenkirchen für kurze Zeit einen Job als Beifahrer in einer Kleinspedition fand. Aber geregelte Arbeit war Freeses Sache nicht. Er lernte, wie man Autos knackt, und wie man Banken überfällt. Wie er mir später erzählte, sei er ein »Naturtalent« gewesen, in jedem Fall ein Autodidakt. Seine ersten Autodiebstähle waren VW-Käfer, deren Türen zu öffnen sei ein Kinderspiel gewesen, und um den Wagen kurzzuschließen habe er weniger als eine Minute gebraucht. Zum ersten Mal beim Autoklau erwischt habe man ihn in Bonn, wo er unter falschem Namen eine kleine Wohnung in Sichtweite des Bundestages gemietet hatte. Es gelang ihm jedoch, der Polizei zu Fuß zu entkommen. Danach kaufte er sich eine Pistole, da es ihm kraftsparender erschien, auf die Ordnungshüter zu schießen, als vor ihnen fortzulaufen. Am 25. Juli 1961 knackte Freese in ­Boppard am Rhein einen Ford, mit dem er hinauf auf den Hunsrück fuhr, um dort die Raiffeisenbank im nahe gelegenen Buchholz zu überfallen. Dreist wie er war, fuhr er mit dem Fluchtwagen direkt vor die Bank. Mit einem markigen »Hände hoch! Keine Bewegung! Das Geld her!« betrat er den Schalterraum und richtete die Waffe auf den Kassierer. In Schockstarre mussten die Angestellten beobachten, wie ihr Chef den Tresor leerräumte und die Scheine in Freeses mitgebrachte Ledertasche stopfte. Mit einem artigen »Auf Wiedersehen« verließ er die Kasse, sprang ins Auto und verschwand mit der Beute von 7.000 Mark. Da der Überfall ihm wie ein Kinderspiel erschien, beschloss er, bei diesem Geschäftsmodell zu bleiben, denn auch hier erkannte er sein natürliches Talent: Er war weitgehend angstfrei. In den Wochen danach scharte er eine Bande von Spitzbuben um sich, die ihn bei einem halben Dutzend Banküberfällen unterstützten, teils als Kundschafter, teils als Fahrer der zuvor gestohlenen Fluchtfahrzeuge. Freeses Spezialität waren Überfälle auf kleine Filialen der örtlichen Sparkassen und Raiffeisenbanken in der Pfalz und im Rhein-Main-Gebiet. Nach sieben erfolgreichen Coups beschloss Freese, das Einsatzgebiet in den Großraum Koblenz zu verlegen, wo einer seiner Komplizen mit der Familie lebte. Er war es, der die Sparkasse in Winningen kannte und sie Dieter Freese schmackhaft machte: Dort sei die große Kohle zu holen! Fresse gefiel das Reizwort von der großen Kohle, und der Plan war gefasst.
Zu fünft quetschten sich die Ganoven in einen zuvor geknackten Personenwagen und fuhren nach Winningen, einem Ort an der unteren Mosel, nur wenige Kilometer von Koblenz entfernt. Einer blieb beim Auto, Freese und drei seiner Komplizen stürmten die Bank.
»Überfall! Gebt das ganze Geld her, zack zack!«, herrschte der Mann mit der Pistole den Angestellten am Geldschalter an, während er sich über den Banktresen schwang. Keine Frage, wer hier der Boss der Bande war.
Nachdem der Kassierer und Leiter der Filiale in Personalunion den Räubern das vorrätige Bargeld ausgehändigt hatte, immerhin die erkleckliche Summe von 1.600 D-Mark, verschwanden sie, wobei Freese, übrigens der Einzige, der eine Schusswaffe bei sich trug, den Schalterraum als letzter verließ. Er schickte sich gerade an, die Türe hinter sich zu schließen, als der beraubte Kassierer sich mit einem abschließenden Statement zu Wort meldete: »Ihr werdet alle ins Gefängnis kommen!«
So wahr sich diese Prophezeiung auch erweisen sollte, Dieter Freese fühlte sich dadurch provoziert. Er ging zurück und stellte klar: »Und du wirst in die Hölle kommen!« Dabei richtete er die Pistole auf den Mann und schoss ihm aus nächster Nähe ins Herz. Er starb mit 61 Jahren an seinem Arbeitsplatz. Ein »Arbeitsunfall« kommentierte Freese zynisch, als er mir Jahre danach die Geschichte erzählte. Kurz habe er noch überlegt, ob er auch die junge Frau erschießen sollte, entschied sich aber dagegen, als er die panische Angst in ihren Augen sah. »Dein Chef hätte besser das Maul gehalten, das hat er jetzt davon«, sagte er noch zu ihr. Dann machte auch er sich aus dem Staub.
Gemeinsam flüchtete die Bande nach Boppard, wo sie die Beute aufzuteilen gedachten. Warum er vier Komplizen mitbrachte, ist sonderbar, jedenfalls entsprach es nicht seiner Gewohnheit. Machte es im Wilden Westen noch Sinn, zu einem Überfall mit vier oder fünf Männern in eine Kleinstadt einzureiten, war diese Personalausstattung in Winningen nicht notwendig, handelte es sich beim Personal doch lediglich um den Filialleiter und seine Angestellte. Dieser Bankraub sollte nicht bloß Aufsehen in der Presse erregen, sondern in die deutsche Kriminalgeschichte eingehen. Aber der Reihe nach.
Mit dem Raubmord von Winningen hatte Dieter Freese sich einen Platz in der obersten Kategorie des deutschen Verbrechertums gesichert. Die Polizei, die Presse und die Öffentlichkeit reagierten mit äußerster Empörung auf den kaltblütigen Mord. Die Fahndung unter der Leitung des Koblenzer Kriminalkommissars Linnebacher lief auf Hochtouren. Dass die Bande schon am nächsten Tag in einer Gartenlaube oberhalb des ehemaligen Klosters Marienberg in Boppard aufgespürt werden konnte, lag weniger an der genialen Vorgehensweise des Kommissars, als an der Gattin des Bopparder Komplizen, die ihren Mann an die Polizei verraten hatte. Als Freese sich der Obstgartenlaube näherte, war die Kripo längst vor Ort und wartete auf den fünften Mann, ehe sie zuschlugen. Obwohl die Hütte von einem Dutzend Beamten umstellt war, gelang es Freese, erst aus dem Fenster, dann von einer oberhalb des Klosterparks gelegenen Felsklippe zu springen und in den angrenzenden Wald zu entkommen. Die übrigen Räuber, allesamt Dilettanten ihrer Branche, wurden in Handschellen gelegt und ins Koblenzer Untersuchungsgefängnis auf der Karthause verbracht.
Bis zu diesem Tag hatte Dieter Freese zwar schon mehrere Hundert Verbrechen auf dem Konto, aber es handelte sich um Autodiebstähle, Einbrüche, Raubüberfälle und dergleichen gesellschaftlich wenig tolerierte Kapriolen mehr. Diesmal war es anders, ein Mensch war ums Leben gekommen, ein braver Bürger, der kurz vor der Rente stand. Nicht zu vergessen, die hübsche Bankassistentin, deren Konterfei in der Rhein-Zeitung in einer Heiratsannonce nicht effektiver hätte platziert werden können, und die jetzt das weitere Leben traumatisiert bewältigen musste. Es dauerte weniger als eine Stunde, und einer seiner Mitverschwörer hatte Freeses Namen genannt, anders ausgedrückt, er hatte sich durch den Verrat einen Todfeind geschaffen. Mit der Flucht aus der Gartenlaube begann eine für damalige Verhältnisse beispiellose Jagd auf einen Schwerverbrecher.
Ich war zur Zeit dieses Banküberfalls zehn Jahre alt. Zwei Monate später sollte ich von der Volksschule aufs Gymnasium wechseln, was mit einem Aufenthalt in einem Internat in Boppard verknüpft war, der Stadt, aus der einer von Freeses Komplizen stammte. Meine Eltern verfolgten den Fall im Radio, wo täglich über den Stand der Fahndung berichtet wurde. So erfuhr auch ich, was genau sich in Winningen zugetragen hatte. Sonst wusste ich nichts über Dieter Freese. Und dennoch: Angesichts des fanatischen Eifers, mit dem die Erwachsenen des Mörders Festnahme und Verurteilung herbeisehnten, blindwütiger als jede Emotion die sie ein Jahrzehnt davor den übelsten Vertretern des Nazi-Regimes gegenüber gezeigt hatten, wurde Misstrauen in mir wach. Ich kann es noch heute schwer nachvollziehen, aber ich erinnere mich, dass ich dem Mörder Freese heimlich die Daumen drückte, dass er es schaffen möge, dem Staat und seiner Polizei zu entkommen. Da ich eine kleinbürgerlich-katholische Erziehung habe erdulden müssen, in der mir niemand beigebracht hatte, Mördern zu verzeihen, ihnen gar Glück zu wünschen, kann ich zur Motivation meiner Sympathie lediglich vermuten, dass es der Mythos vom Kampf David gegen Goliath war, der mein Herz für die Seite des Verbrechers einnahm, was meine Parteinahme für den Einen und gegen die Vielen begründen kann. Denn mitnichten hatte ich in dem Alter schon das Prinzip der Menschenwürde verstanden, wusste nichts von den ethischen Leitgedanken der Bergpredigt, und erst recht hatte ich keine Ahnung von Psychologie oder Hirnforschung, die mir den Gedanken von der Unschuld des Menschen und der Unfreiheit seines Willens hätten nahebringen können. Instinktiv hatte ich mir den von allen gehassten Mörder zum Helden erkoren. Mit dem Wissen von sechzig weiteren Lebensjahren Erfahrung und Studium ist mir klar, dass Dieter Freese aufgrund seiner tragischen Biografie eine tiefgreifende seelische Anomalie entwickelt hatte, die es ihm auferlegte, seinen Mitmenschen und der Welt mit Zynismus, Sadismus und völliger Empathielosigkeit zu begegnen.
Die exakte Chronologie seiner Flucht kennt außer dem Archiv der Rhein-Zeitung und den Ermittlungsakten wohl niemand mehr, und auch ich würde völlig im Dunkel stochern, hätte ich Dieter Freese nicht 1990 im Diezer Gefängnis kennengelernt und in einem schwierigen Prozess der Annäherung ein Stück weit sein Vertrauen erworben. In den acht Monaten, die wir zusammen im Knast verbrachten, erzählte er mir die Geschichte seiner Kindheit und Jugend, wie ich sie eingangs grob nachzuzeichnen versucht habe.
Vom »Eisenbolzen«, so der Name des Berges bei Boppard, auf dessen Terrasse sich die missglückte Verhaftung abspielte, entkam Freese durch den Stadtwald auf den Hunsrück und von dort weiter nach Koblenz. Vor einem Hotel beobachtete er, wie gerade angereiste Gäste den Mercedes parkten, das Hotel betraten und dabei ihren Wagen nicht absperrten. Während das Ehepaar die Formalitäten an der Rezeption erledigte, war Freese mit deren Auto samt Gepäck auf dem Weg in die Eifel, wo er am selben Abend bei Mayen eine abgelegene Jagdhütte aufbrach und dort nach dem Stress, der auf den Überfall in Winningen folgte, ein paar Tage lang ein geregeltes Leben führte, das heißt, er aß von den Vorräten, badete in einer Wanne und schlief im weichen Bett der Jagdpächter. Bei der Durchsuchung des Schrankes fand er sogar eine Schachtel der Munition, die in seine Pistole passte. Turbulent wurde es erst wieder, als er das Versteck verließ und zum Laacher See fuhr. Dort kehrte er in eine Gaststätte ein, um zu Mittag zu essen. Dabei fielen ihm mehrere Leute auf, die sich in der Nähe des zuvor in Koblenz gekaperten Mercedes herumdrückten und sich das Nummernschild notierten. Wie erwähnt, lief eine Großfahndung nach ihm, jeder Bürger, der den Südwestfunk einschaltete oder die lokalen Tageszeitungen las, war in Sachen Freese-Fahndung auf dem aktuellen Stand. Dass es Dieter Freese war, der diesen dreisten Autodiebstahl vor dem Hotel begangen hatte, war der Koblenzer Polizei schnell klar, also kannte man auch die Autonummer, die stündlich zusammen mit einer Personenbeschreibung im Radio durchgegeben wurde. Freese verließ das Lokal noch ehe sein Menü serviert war und fuhr wenige Minuten ehe die Polizei eintraf, vom Parkplatz.
Zehn Tage lang war er wie vom Erdboden verschluckt. Zwar gingen täglich bei der Koblenzer Polizei Hinweise von Bürgern ein, die Freese gesehen haben wollten, aber keiner erwies sich als heiße Spur. Von Kaiserslautern bis Trier, von Aachen bis Gießen, von Bad Orb bis nach Ludwigshafen rückten Hundertschaften aufgrund falscher Hinweise aus, sperrte die Polizei Landstraßen und durchkämmte riesige Wälder, allein, Herr Freese blieb inkognito. Erst Anfang März tauchte er wieder auf, boulevardgerecht mit einem Paukenschlag. Als am 1. März ein Wachtmeister mit Diensthund an der Leine, dem sogenannten Ofenkaulen im Siebengebirge einen Kontrollbesuch abstattete, schaute er sich auch einige Höhlen an, in denen seinerzeit immer wieder Obdachlose und Streuner Unterschlupf fanden. Dass sich just an diesem Tag der landesweit gesuchte Mörder dort aufhielt, ahnte der Beamte nicht, aber als sein Hund anschlug wurde er neugierig. Das Gebell des Polizeischäferhundes hatte Freese aufgeweckt, der in der Düsternis eines Stollens ein Nickerchen machte. Kurzum: Freese überraschte den Wachtmeister, entwaffnete ihn und schickte ihn samt seinem wütend bellenden Hund fort. Kurz nachdem der Polizist das Weite gesucht hatte, ließ er den Hund von der Leine, in der Hoffnung, das Tier würde den Verbrecher stellen. Stattdessen hallte ein Schuss durch die Ofenkaulen, und Hasso lebte nicht mehr. Diese Geschichte wurde den Hörern in den nächsten Radionachrichten wie ein Podcast aufbereitet, die Spannung stieg, und der Druck auf den Polizeipräsidenten stieg ebenfalls. Bei den alle drei Tage stattfindenden Pressekonferenzen gingen ihm angesichts der Misserfolge seiner Truppe die Worte aus.
Wieder war Dieter Freese entkommen und untergetaucht. Während Hundertschaften das Siebengebirge durchsuchten, war der Verbrecher auf einem geklauten Fahrrad unterwegs nach Limburg. Dort ließ er sich beim Frisör rasieren, kleidete sich neu ein und entwendete vom Hof einer Autowerkstatt einen unauffälligen Opel Rekord. Im Spessart überquerte er die bayerische Landesgrenze und fuhr im Stil eines Touristen gen Süden. Er hatte beschlossen, sich ins Ausland abzusetzen, am liebsten in die DDR, aber die dortigen Machthaber hatten inzwischen eine Grenzbefestigung errichtet, die weder von Westen noch von Osten einfach zu überwinden war. Also machte er sich auf den Weg in den Bayerischen Wald, wo er zunächst über die Grenze zur Tschechoslowakei und von dort aus über das Erzgebirge in die DDR einschleichen wollte. In der Gegend von Freyung nahm er Quartier in einer Pension für Wintersportler, denn im März lag der Bayerische Wald noch unter einer dichten Schneedecke. Als die Pensionswirtin am nächsten Tag ihren Gast am Frühstückstisch vermisste, dessen Wagen aber noch vor dem Haus stand, informierte sie zwei zufällig einkehrende Zollbeamte über den merkwürdigen Herrn. Ein Telefonat mit der Polizei im nahen Freyung, und der Verdacht erhärtete sich, dass hier etwas faul war, jedenfalls war der Wagen draußen auf dem Parkplatz seit einer Woche als gestohlen gemeldet. Ohne auf die angekündigte Streife zu warten, machten sich die Grenzschützer hinter Freese her, dessen Spur im hohen Schnee nicht zu übersehen war. Nach mehr als einer Stunde fanden sie ihn schlafend im Laub unter einem Felsvorsprung, eingewickelt in die Decke, die er in der Pension hatte mitgehen lassen. Freese, der völlig erschöpft und durchgefroren war, ergab sich, händigte den Beamten seine beiden Pistolen aus und nannte seinen Namen. Auf dem Rückweg stapfte er in Handschellen gefesselt ein letztes Mal durch den verschneiten Winterwald. Eine Woche darauf traf er in der Justizvollzugsanstalt Koblenz ein, wo er fortan gemeinsam mit seinen Komplizen auf den Prozess wartete.
Als ich im Radio von Freeses Verhaftung erfuhr, war ich sehr enttäuscht, hatte ich doch mit meinen Freunden eine Wette abgeschlossen: »Den kriegen sie nie, der ist viel zu schlau!« Dann und wann war in der Rhein-Zeitung etwas über meinen »Lieblingsmörder« zu lesen. Wie üblich, nichts Tiefschürfendes. Ich glaube mich zu erinnern, das heißt, ich erinnere mich, dass Freese nach wenigen Wochen Untersuchungshaft in Koblenz seinen Schließer mit vorgehaltener Waffe begrüßte. Es handelte sich dabei um eine aus Brotteig geknetete und modellierte Pistole, die er mit Schuhwichse eingefärbt und poliert hatte. Unterwegs durch das alte Gemäuer in Richtung Gefängnistor, fiel einem der Beamten auf, dass von Freeses »Pistole« etwas abbröckelte, und damit war dieser Ausbruchsversuch gescheitert.
Während der Untersuchungshaft wurde die Bande verhört, wobei die Wahrheit zu dem Raubmord von Winningen ziemlich lückenlos aufgeklärt werden konnte. Jeder der Komplizen steuerte etwas bei, man verriet sich gegenseitig, alle schoben die Verantwortung auf Dieter Freese, der sie zu der Sache angestiftet habe. Der Bandenchef gestand nicht nur Winningen, sondern Dutzende weiterer Verbrechen. Er ging von Anfang an davon aus, dass er zu Lebenslang verurteilt werden würde, und er war sich sicher, dass ihm früher oder später der Ausbruch aus dem Gefängnis gelingen werde. Diesbezüglich hatte er ein stabiles Vertrauen in sich selbst und sein Naturtalent.
»Wenn ich raus bin aus dem Knast«, kündigte er dem Koblenzer Hauptkommissar Karl Linnebacher an, »mache ich dich platt!« Eine ebenso kühne wie realitätsferne Prophezeiung seitens eines Mannes, der mit dem Rücken und dem Bauch gleichzeitig zur Wand stand. Und um im kriminellen Groove zu bleiben, sagte er seinem Bopparder Komplizen, der ihn gleich nach seiner Verhaftung verpfiffen hatte, im Gerichtssaal das nämliche Schicksal an: »Du bist schon so gut wie tot, Genosse!« Während des Verfahrens vor vollbesetzter Kulisse (jeder aufrechte Bürger, der Rache im Bauch und Verachtung in der Kehle spürte, wollte Zeuge dieser Hinrichtung sein) machte Freese immer wieder zitierfähige Bemerkungen, die einerseits seine Verachtung der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber zum Ausdruck brachten, andererseits unüberhörbare Anzeichen seiner psychopathischen Persönlichkeit waren. Freese zeigte während der Verhandlung kein Bedauern, er bereue nur, dass er dem »Bullen an den Ofenkaulen das Licht nicht ausgeblasen« habe. Leid hingegen tat ihm der »prächtige Hund«, den der Polizist auf ihn gehetzt hatte. Als der vorsitzende Richter ihn nach seinen Gefühlen zum Schicksal des Filialleiters der Sparkasse fragte, bemerkte Freese lakonisch: »Wenn einer erschossen wird, ist er doch wohl selber schuld.«

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