Literatur und Sachbuch
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»Der Ziegenmelker« Gerda C. Heidelmann

 

Die Sonne schien, als ich aufwachte. Meine Augen schlossen sich sofort wieder, weil sie das plötzliche Licht nicht mochten.
Doch nur einen Moment später öffnete ich sie erneut, nur einen winzigen Spalt breit und sah den sich bewegenden Schatten eines Zweiges an der Wand. Ich hob den Arm, um dem Schatten Einhalt zu gebieten. Vergeblich.
Es war mir unerträglich, dass sich um mich herum etwas bewegte. Mein Blick fiel dabei auf meine Hand. Sie sah seltsam blass und knotig aus, als wäre sie die Hand eines alten Mannes und nicht die eines jungen.
Der Anblick erschreckte mich. Unschlüssig bewegte ich sie hin und her, hob etwas mühsam auch die andere Hand, um sie gegeneinander zu reiben und zu beleben. Doch sie behielten das leidende Aussehen.
Mit einem Rest von Energie stand ich auf, denn ich musste dringend zur Toilette. Wie ernüchternd. War ich deswegen aufgewacht?
Ich wäre lieber noch auf dem Gipfel des sonderbaren Geröllhügels geblieben, auf den ich mich im Traum endlich hinaufgearbeitet hatte.
Oben die freie Luft einatmen zu können hatte mir seltsam gut getan. Der Zustand schien noch immer nachzuwirken. Selbst der Gang zur Toilette fiel mir leichter.
Über dem Waschbecken legte ich das Gesicht in die mit kaltem Wasser gefüllten Hände und massierte meine schmerzenden Augen.
Ich wiederholte den Vorgang so lange, bis die Kälte selbst in meine Schädelknochen zu dringen schien. Danach betrachtete ich mich im Spiegel.

Ein hageres, blasses Gesicht mit dunklen Bartstoppeln blickte mich an, ein Fremder. Nach dem Abtrocknen sah ich noch blasser aus. Der Spiegel musste sich irren. Das war ich nicht.

Ich setzte mich auf mein Bett und zog die Jeans von der Stuhllehne, eine vertraute Geste, mit der ich fast jeden Tag begann.
Doch ich wunderte mich, wie lange ich brauchte, um mein Hemd zuzuknöpfen.
Auch die Schuhe waren eigenartig schwer. Bevor ich weiter entscheiden konnte, was ich tun wollte, klopfte es.
Meine Mutter stand im Türrahmen. Und hinter ihr mein Vater.
Mit sonderbar fremden Augen, die nicht meine zu sein schienen, sah ich beide mit sorgenvollen Gesichtern auf mich zukommen.
Ich hörte meine Mutter sich räuspern und dann mit belegter Stimme sagen: »Guten Morgen, Gregor.«
Ich konnte mich nicht entsinnen, dass mein Vater jemals in dieses Zimmer gekommen war. Erschöpft setzte ich mich zurück auf die Bettkante und wartete auf das, was geschehen würde.
Mit entschlossenen Mienen kamen sie wie eine geschlossene Wand auf mich zu. Ihre Nähe drückte mir den Atem ab.
»Wie geht es dir?«, fragte mein Vater und durchbrach die Stille.
Das interessiert dich doch überhaupt nicht, dachte ich mit einer aufkommenden Aggression. Warum fragst du mich? Ohne zu antworten atmete ich hörbar aus.
Er drehte den Stuhl um und setzte sich mir gegenüber.
Meine Mutter schloss das Fenster. Das tat sie immer, wenn es laut zu werden drohte. Niemand sollte Zeuge unserer Auseinandersetzung werden.
»Gregor«, begann sie unsicher. In dem hellen Licht sah sie überaus groß aus, obwohl sie zierlich und viel kleiner war als ich. Das Gesicht meines Vaters hingegen nahm ich gar nicht wahr.
Ich blickte nur auf den sonnenbeschienenen Teil seiner braunen Cordhose.
Seit Tagen hatte ich alle Fragen meiner Mutter gereizt abgewehrt und auch kaum das Essen angerührt, das sie mir ins Zimmer brachte.
Nahezu verstummt hatte ich mich in mein Bett verkrochen, den Ort, von dem ich annahm, dass er nur mir gehöre. Ich hatte mich geirrt.
Sie erreichte mich überall.
Und nun hatte sie meinen Vater als Verstärkung mitgebracht. Ich blickte zu ihm hoch und bemerkte in seinem Gesichtsausdruck, wie unangenehm ihm dieser Besuch war.
Meine Mutter redete weiter auf mich ein. Als sie eine Atempause benötigte, ich auf ihre Vorschläge und Belehrungen jedoch nicht reagierte, begann mein Vater, wie mit einem Kind mit mir zu reden.
Er sprach liebevoll und inständig, er bat und flehte, aber auch seine Argumente erreichten mich nicht.
Ich zog die Schultern hoch und hörte nur dem Klang seiner Stimme zu, ohne den Sinn verstehen zu wollen.
Dann wurde er mit einem Mal unangenehm laut und eindringlich.
Schließlich packte er mich an den Schultern, als ob er mich wach rütteln müsse. Seine Berührung löste ein angstvolles Gefühl in mir aus.
Plötzlich verabscheute ich sie, mehr noch, ich hasste sie alle beide.
Ich hasste die Art, wie sie mich in die Enge trieben, doch am allermeisten verachtete ich mich selbst.
Der Hass stieg mit einem brennenden Schmerz in mir hoch, wuchs über mich hinaus und endete in einem gellenden Schrei:
»Nein! Neiiiiin! Ich will nicht! Ich will nicht in eine Klinik! Ich will keine OP! Keine Chemo! Lasst mich in Ruh! Lasst mich doch in Ruh!«
Als mein Schreien aufhörte, stürzte der peinigende Schmerz durch meinen Körper zurück, wie ein Turm, der in sich zusammenbricht.
Mit zitterndem Atem hielt ich mir die Fäuste vor die Augen und verschloss sie vor den immer noch drängenden Fragen meiner Eltern und dem Gellen meiner Stimme.
Plötzlich war es still.
Ich hatte noch niemals meine Eltern angeschrien. Erschrocken blickten wir uns mit aufgerissenen Augen an.
Meine Mutter atmete tief aus. Ihre Brust hob und senkte sich, als wolle sie erneut zu sprechen beginnen.
Doch mein Vater legte abwehrend die Hand auf ihren Arm. Sie bewegte nur stumm die Lippen.
Ich nahm die Autoschlüssel vom Tisch und verließ ein wenig taumelnd mein Zimmer.
»Gregor!«, hörte ich meine Mutter rufen »Gregor …!«
Doch sie kam mir nicht nachgestürzt, um mich zurückzuhalten. Sie ließ mich gehen.
Die Tür klappte hinter mir zu. Meine Schritte hallten auf den Steinstufen der Treppe.
Mein Auto stand an seinem gewohnten Platz. Ich stieg ein und steckte den Schlüssel in das Schloss.
Doch dann wusste ich nicht, was ich tun sollte. Mit Erstaunen stellte ich fest, dass es nichts gab, worauf ich Lust hatte. Es wartete niemand auf mich.
Mechanisch drehte ich den Schlüssel um, startete den Motor und fuhr los. Ich hörte den Kies knirschen, bemerkte den glatten, schwarzen Anstrich des Eisengitters und ließ einem grünen Blumen-Lieferwagen die Vorfahrt.
Dann fuhr ich hinterher, automatisch, ohne Empfinden.
Selbst Frankfurt, die Stadt, in der ich geboren und aufgewachsen war, bedeutete mir nichts.
Ich hatte irgendwann einen Rundflug geplant, um zu sehen, welch ein Ungetüm sie war mit ihren Blechlawinen, die sich in sie hinein- und heraus wälzten, mit ihren Hochhäusern, Turmspitzen und Dächern, den Windungen des Mains, ihren Geräuschen und Lichtern. Doch es war bei dem Vorhaben geblieben.
Was wohl die Vögel von dieser Stadt hielten, wenn sie über ihr kreisten und den Luftraum mit den Abertausenden von Flugzeugen teilen mussten?
Ich hatte die Vögel nie interviewt.
Doch ich kannte die Stadt gut genug, um aus ihr zu fliehen, ohne nachdenken zu müssen.
Eingezwängt zwischen anderen Autos, Abgasen und Lärm fuhr ich an den Häusern, den Glastürmen der Banken und Versicherungen vorbei, hielt an den Ampeln, fuhr weiter, geradeaus, mehr links, mehr rechts, an den Messehallen vorüber, bis mir ein Plakat in die Augen sprang. Go West stand darauf.
Vielleicht war das meine Richtung. Nach Westen also.
Das Gefühl für die Zeit, sonst so wichtig, war mir verloren gegangen. Ich wusste nicht, ob ich bereits ein, zwei oder gar mehr Stunden unterwegs war.
Meine Hände klebten am Lenkrad wie angeschweißt. Das Lenkrad war das Einzige, was mir vertraut schien und meinem Tun einen Sinn gab.
Als ich ein Hinweisschild nach Bonn sah, nahm ich die nächste Abfahrt. Nach Bonn wollte ich nicht.
Ich fuhr lange Strecken durch nie zuvor wahrgenommene Waldgebiete. Die Autobahn war mitten hindurch gefräst worden. Die Landstraßen vor mir kannte ich auch nicht, aber sie waren verkehrsärmer und gut zu befahren.
Dann fiel mir ein, dass Samstag war. Die sommerliche Hitze hatte sich inzwischen im Auto eingenistet. Ich ließ das Fenster herunter und fuhr es dann wieder hoch.
In allem was ich tat war eine Art Sturheit, ein angelernter Mechanismus, der ohne große Kraftanstrengung für mich arbeitete.
Nach einer Hochebene mit grünen Feldern geriet ich unter einer Straßenbrücke in ein langgezogenes Tal, das wie eine verbeulte Wanne wirkte.
Ich riss mich aus meiner Lethargie. Vor mir waren plötzlich keine anderen Autos mehr. Ich konnte nicht mehr mechanisch irgendjemandem hinterher fahren. Ich musste mich entscheiden, wohin ich wollte.
An einem asphaltierten Platz neben der Straße hielt ich an und stellte den Motor ab. Ein Schwall heißer Luft prallte mir entgegen, als ich ausstieg.
Durch die Hitze oder auch durch das grelle Sonnenlicht wurde mir einen Moment schwindlig. Ich hielt mich am Türrahmen fest und atmete tief durch. Die Luft roch nach Heu und Staub und verursachte einen heftigen Husten, der mir schmerzlich in die Magengrube fuhr.
Auf der Anhöhe vor mir sah ich die dunklen Umrisse eines Waldes. Dort musste es kühl und angenehm sein.
Der steile Anstieg bereitete mir viel Mühe. Zweimal ließ ich mich erschöpft auf das verdorrte, hohe Gras fallen. Doch schließlich schaffte ich den Hang und stellte mich aufatmend in den Schatten.
Ein mit braunem Lavageröll bestreuter Weg führte in den Wald hinein. Ohne lange nachzudenken, mit der gleichen Sturheit wie am Steuer, heftete ich meinen Blick auf das braune Band vor mir. Ich sah weder nach rechts noch links, sondern folgte wie besessen dem schattigen Weg.
Mir war, als sei mein Kopf leergefegt. Es tat gut, leer zu sein und durch das mechanische Gehen in eine noch größere Leere zu gelangen.
Ich blieb erst stehen, als in dem Lavagebröckel etwas Helles aufleuchtete.
Vor mir sah ich einen kleinen, weißen Elefanten, so klein, dass er in meine Handfläche zu passen schien.
Er lag genau vor meinen Füßen, hatte mutig seinen winzigen Rüssel erhoben und schien irgendetwas in die Welt hinaus zu trompeten.
Beim Anblick des Plastikspielzeugs riss plötzlich etwas in mir auf. Der gefürchtete, schreckliche Schmerz kam zurück und trieb mir die Tränen in die Augen.
Wie in einem Film sah ich meine Mutter vor mir, betrachtete mein Leben, das verflochten war mit ihrem, sah Gestalten, Ereignisse und Begebenheiten, die ich schon lange vergessen hatte.
Die Bilder liefen rasend schnell rückwärts. Ein Schütteln überkam mich, als ich meine Mutter über einer Schüssel mit kochendem Wasser sitzen sah, in der Hoffnung, mich abtreiben zu können.
Ich hörte sie mit meinem Vater streiten, dass sie nie ein drittes Kind haben wollte, dass sie mich aber trotz aller Bemühungen hatte gebären müssen.
Wo hatte ich diese so intimen Gespräche belauscht? Von wem gehört? Es war so lange her, doch sie schienen sich festgeschrieben zu haben.
Als kleiner Junge saß ich zu oft unter langen Tischtüchern versteckt oder in nicht einsehbaren Ecken und hörte, was nicht für meine Kinderohren gedacht war.
Verstecke vermittelten mir das Gefühl von Geborgenheit und die überraschende Entdeckung, dass die Erwachsenen sich ihre Enttäuschungen gegenseitig vorwarfen oder ihre Nöte teilten. Dass sie mich nicht wahrnahmen überraschte mich.
Das Gehörte vermischte sich mit meinen eigenen, einsamen Zweifeln, die ich irgendwo in mir verdrängte, wo sie unverdaut liegen blieben.
Eine Aussage meines Vaters, dass er mich für einen Versager hielt, dass ich ein Mensch voller Ängste, widersprüchlich, dickköpfig und unzugänglich sei, ließ mich trotz der Hitze frösteln.
Ich hörte meine Mutter weinen. Sie schien wie von Sinnen. Ihre überschlagende Stimme vermischte sich mit dem Hämmern meines Herzens. Mir wurde übel.
Zitternd ging ich in die Knie und saß eine Weile vor dem kleinen Elefanten. Er schien zu wachsen, je näher ich ihm kam und trompetete unbeirrt weiter.
Ich atmete in kurzen Stößen, um ein Erbrechen abzuwehren und wartete ergeben, bis meine aufgebrachten Gedärme sich wieder beruhigt hatten.
Ich ließ das Spielzeug liegen, erhob mich in Panik und beschleunigte meine Schritte. Angst überfiel mich, mein Auto nicht mehr erreichen zu können. Doch als ich aus dem Wald heraustrat, sah ich es im Tal stehen.
Es war ein Rundweg, ich musste nur auf der anderen Seite über die Böschung wieder hinabsteigen. Die Hitze brachte meine Benommenheit zurück.
Ich zwang mich weiterzugehen bis zu einer Ansammlung von Hecken, um von dort schräg hinunter auf den Talboden zu gelangen.

 

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