»Inmitten von allem der Fluss« Ernst Heimes

 

 

1

Frühjahr 1956.
Schon wieder sitzt er im Keller, der alte Dores, in seinem selbstgewählten Asyl auf der Suche nach Ruhe.
»Dou Scheißkerl! Dou Dreckshund, dou dreckijer!« Das ewige Geschrei der Alten! Ihr Gezeter! Inzwischen ist es fast jeden Tag zu hören. Vor keiner, auch noch so üblen Beschimpfung scheut sie zurück. Lässt ihrer Tollwütigkeit freien Lauf. Schmeißt Gegenstände an die Wand, die zerscheppern und in tausend Teilen durch den Raum fliegen. Sie beißt, spuckt, schlägt wahllos um sich, greift ihn sofort an, wenn er mit mutlosen Worten beruhigend auf sie zugehen will. Stühle fliegen in die Zimmerecke, mit Wucht reißt sie den Tisch herum, dass dieser die Beine in die Höhe streckt, wie ein Tier in Totenstarre.
Wehe! Nur nicht in ihre Nähe geraten, wenn ein Tobsuchtsanfall sie heimsucht. Klingt dieser ab, dann ist sie noch stundenlang aggressiv, missstimmig, ja, gefährlich. Für sich selbst und für ihn. Seit sie aus der Andernacher Anstalt zurück ist, verlässt sie kaum noch das Haus, kaum noch die Wohnung im ersten Stock. Sie klettert ein paar Mal am Tag die Treppe hinunter ins Parterre. Dort ist das Klo, das sich die Hausbewohner teilen, dahinter das Badezimmer, in dem samstags der Badeofen geheizt wird.
Er verbringt ganze Tage im Keller, nur um sein wutschnaubendes Weib nicht ertragen zu müssen. Dort unten, im Vorraum zu den Lagerfässern, hat er sich notdürftig eingerichtet. Wegen der gleichbleibend niedrigen Kellertemperatur schmerzen ihm die Knochen. Da helfen auch noch so dicke Jacken nicht viel. Früher haben ihm lange Aufenthalte hier unten nichts ausgemacht, als er noch richtig arbeiten konnte und sich um seinen Wein mühen musste. Aber inzwischen ist er dreiundsiebzig und nichts an ihm ist mehr neu. Tagsüber verlässt er immer wieder sein Kellerdomizil und macht sich in dem kleinen Gartenstreifen, auf der zum Dorf hin gelegenen Seite des Weges, den die Einheimischen Neije Wäch nennen, zu schaffen. Ein winziges Stückchen Erde, das zum Haus gehört, das er sogar mit einem Zaun eingefasst hat. Er bepflanzt, hegt und pflegt es, erntet Gemüse, Salat, Tomaten, Beeren, seit er vor dreißig Jahren seinen Neubau bezogen hat.
Kühles, unentschlossen flimmerndes Sonnenlicht. Noch ist es früh im Jahr. Fliehende Wolken. Bauchige Wesen in zügiger Veränderung. Schieben sich dicht, so dicht aufeinander, um sich dann schnell wieder in andere, offenere Formen zu flüchten. Helles, kräftiges, verheißungsvolles Blau zwischen den bauchigen, den freundlichen Himmelsgespenstern des Mittags.
Der Junge weiß noch nichts von den Erscheinungen hoch in den Lüften, von Wolken, Regen, Sonnenglanz. Licht und Schatten. Die ersten Bilder vor seinen Augen sind hell, leuchtend, unscharf und von einem diffusen Flattern durchwoben. Schon hat er begonnen, die Welt zu begreifen. Das Lichterspiel auf den Fensterscheiben, die lebendigen Bewegungen über den Blumenmustern der Tapete und an der Zimmerdecke. Blitzende Spiegelungen funkelnd im Glas der Vitrine. Schatten, Konturen, die rautenförmig den Raum durchwandern.
Das Pochen, stetig gleichmäßiges, sanftes Pochen in seinem Ohr, wenn die Ohrmuschel flach auf dem Kopfkissen liegt. Der Rhythmus des Lebens, seines noch ganz jungen Lebens, wiegt ihn, lässt ihn ruhig sein in völligem Urvertrauen. Es verschwindet, dieses zarte Klopfen, sobald er das Köpfchen ein wenig dreht. Dann hört er deutlich andere Geräusche, gemächliches Anschwellen und Abschwellen. Er hört es nah, spürt es tief in sich drinnen, leises Strömen, behütendes Summen. Es verbindet ihn mit allem, was ihn umgibt. Noch frei von erlernten Vorstellungen, frei von Ängsten, existiert er ganz in einem alles umfassenden Vertrauen.
Das zurückhaltende Knarren der Holztür, die sich vorsichtig aufschiebt. Ein Geräusch, das er schon kennt. Es kündet vom Erscheinen seiner Mutter Johanna. Er spürt Freude, warmes Lodern im Bauch. Die Frau in der Tür wirft forschende Blicke in den Raum, in die Wiege. Lauscht, und hört den Atem des Jungen. Er spürt, dass sie näher kommt und vernimmt ihre Stimme. Sie ruft leise, singt seinen Namen: »Albert!« Vertrauter, wohltuender Klang. Wärmende Hände, die über seinen Kopf streichen, die sich um seinen Körper legen, ihn vorsichtig aus der Wiege heben, ihn nah an den Leib der Frau legen, die leise mit dem Kind spricht. Sein Mund findet schnell den zarten Ort auf ihrer Brust, der sein Verlangen nach Nahrung stillt, der Nähe spendet und Weichheit, bedingungslosen Schutz.
Johanna steht am großen Fenster des Eckzimmers, das Kind in ihrem Arm, genießt den Blick über die vom Tau benetzten Schieferdächer des Dorfes und hinüber nach Cochem, wo an den Berghängen die ersten Frühlingsboten grün schimmern. Obwohl der Junge noch viel zu klein ist, ihre Worte zu verstehen, spricht sie mit ihm und erzählt, dass der Mann da draußen auf der Straße sein Großvater sei.
»Opa«, sagt sie mit weicher Stimme. »Wo ist der Opa?«
Dieser macht sich nicht die Mühe zum Fenster hinaufzuschauen, um etwa seinem Enkel zu winken. Auch nicht, als der mit Armen und Beinen vergnügliche Babyhopser vollzieht. Seiner Schwiegertochter schenkt er ohnehin keine Beachtung. Der alte Dores wirkt abwesend, in sich gekehrt vielleicht. Er hat den Jackenkragen dicht um den Hals gelegt. Den gesenkten Blick richtet er in seinen Hut. Den hat er vom Kopf genommen, umgewendet und dreht ihn an der Krempe mit beiden Händen gedankenlos vor dem Bauch. So steht er lange da. Sogar noch, nachdem Johanna ihrem Kind die Windeln gewechselt, ein wenig mit ihm gespielt, ihm ein Lied gesungen und es zurück in die Wiege gelegt hat. Als sie wieder ans Fenster tritt, um die Übergardinen ein wenig vorzuziehen, sieht sie ihn noch immer unverändert vor seinem Gärtchen am Wegrand. Sie bemerkt zwei Passanten, einen Mann und eine Frau, die sich von der Brücke her nähern. Beide sind ihr unbekannt. Es werden Fremde sein, denkt sie. Fremde, das Wort Touristen ist noch ungebräuchlich. Als die zwei sich dem Alten nähern, stecken sie die Köpfe zusammen und tuscheln im Vorübergehen. Der Mann greift umständlich in die Innentasche seines Mantels, befördert ein Etui heraus und entnimmt ein paar Münzen. Die lässt er im Hut des Alten klimpern. Der alte Dores nickt, ist mit einem Mal aus seiner Erstarrung erwacht. Er wiegt den Hut auf und ab, als wolle er so das Gewicht der Münzen ermitteln, ihren Wert schätzen. Er deutet eine Verbeugung an: Dankeschön! Über sein Gesicht scheint sogar ein kleines Lächeln zu huschen. Aber da kann Johanna sich auch getäuscht haben.

 

2

An einem grauen Tag in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre quengelte im Eckzimmer, auf dem gleichen Platz im Raum, ein Winzling in einem ausgemergelten Weidenkorb vor sich hin. Ein erbärmliches Häufchen Elend, das seine älteren Geschwister den Viereinhalbpfünder nannten. Veerenhalfponner klang es im moselfränkischen Dialekt, wenn von dem Kind die Rede war.
Es war zum Beginn des Winters 1927/28. Eine Kältewelle hielt ganz Europa mehr als zwei Wochen lang im eisigen Griff. In Nürnberg soll das Thermometer minus 25 Grad angezeigt haben, in Südnorwegen sogar minus 45 Grad Celsius. Aber Nürnberg und Südnorwegen waren weit weg. Hier im Tal der Mosel packte der Frost weniger streng zu. Manche glaubten, das läge am Schiefergestein der Berge, die bis in den Winter hinein die im Sommer aufgetankte Wärme abstrahlten. Andere bestritten dies, sagten, das könne nicht sein. Die Speicherkapazität des Moselschiefers könne zwar für milde Sommernächte sorgen, mehr aber nicht.
Das Eckzimmer des Viereinhalbpfünders wurde nicht beheizt. Zwar war der Weidenkorb reichlich mit Decken und Kissen ausgepolstert, sodass der Kleine darin mitunter völlig versank und seine Schwestern ihn erst einmal freilegen mussten, wenn sie ihn aufnehmen wollten. Doch die Kälte biss ihm ins Fleisch, sobald das kleine Gesicht oder eine seiner winzigen Hände eine Weile unbedeckt blieben. Die Kältewelle zog sich bis kurz vor Christtag dahin. Wochenlang folgte graues, nasskaltes Winterwetter, hierzulande usselich genannt.
Dreizehn Grad unter Null zeigte das Thermometer am Cochemer Rathaus, was der Ausscheller von Cond auf seinem Rundgang mit heiserer Stimme in die Straßen und Gassen rief. Der Ausscheller wurde von manchen der Hippekakker genannt. Es wurde erzählt, dass er die Angewohnheit hatte, in verschiedenen Ecken des Dorfes blitzschnell die Hose herunterzulassen, um seinen menschlichen Bedürfnissen ungeniert freien Lauf zu gewähren. Es wurde gespottet, dass sein Weg durch die Gemeinde an seinen Hinterlassenschaften ohne weiteres nachzuvollziehen sei. Aber geredet wird viel!
Die Kälte stellte die Fenster und Türen des Neubaus, in dem sich das Eckzimmer mit dem Viereinhalbpfünder befand, auf eine erste harte Probe. Der alte Dores hatte das Haus im Frühjahr 1927 mit seiner Familie bezogen, war aus dem kleinen muffigen Gebäude aus rissigem Schiefer und Kieselgestein, Holz und Lehm in der Daljaas in den stolzen Neubau auf dem Neije Wäch gezogen. Hier roch alles frisch und unverbraucht, je nach Witterung manchmal sogar noch nach Zement und dem feuchten Hauch, den frisch gewonnene Bruchsteine, die Mosel-Grauwacke, ausdünsten können.
In den Weidenkorb hatte Agathe, die älteste Schwester, den nur viereinhalb Pfund leichten Bruder gebettet. Im gleichen Korb hatte sie selbst als Baby gelegen, bis ihr Bruder Dores, ältester Sohn des alten Dores nachgerückt war und ihr den Platz streitig gemacht hatte. Ihm folgten fünf weitere Geschwister. Zuletzt Franz, gerade mal anderthalb Jahre alt, als er den Korb zu Gunsten seines jüngeren Bruders räumen und damit den Ort des größten Wohlbehagens verlassen musste. Von da an irrte er tagsüber verloren durch das große Haus, verlief sich manchmal im angrenzenden Hof oder suchte im Kelterhaus Schutz vor Nässe und Kälte. Niemand suchte ihn. Alle Fürsorge der älteren Geschwister, hauptsächlich der Mädchen, galt dem kleinen Viereinhalbpfünder, der sich gar nicht so recht entwickeln wollte.
Aber auch Magdalena, ihre Mutter, bereitete den Geschwistern Kummer. Sie hatte sich nach der Geburt des Kerlchens noch nicht wieder aufgerappelt, sondern belagerte seit der Entbindung ihren Teil des Ehebetts, von Fieberschüben heimgesucht. Tränen schossen ihr in die Augen, wenn Agathe ihr den Viereinhalbpfünder brachte, um ihn zu stillen. Erinnerte sie der Kleine doch, mehr als Franz, an Barbara, ihre Tochter, die sie vor mehr als zehn Jahren verloren hatte.
An einem blaugrünen Maientag war Barbara in einer kleinen schwarzen Kiste, kaum Sarg zu nennen, über die Daljaas in den Kirchhofsweg zur Streckboa getragen worden. Unter einem fremdartigen Gewächs, das hoch und rund auf der Mitte des Friedhofs einen ovalen Schatten warf und, obwohl es nach Tod roch, Lebensbaum genannt wurde, legten zwei Männer in schwarzen Arbeitsanzügen die kleine Holzkiste mit Barbaras Leichnam in die Erde. Der Pastor sprach vom Reich Gottes und erklärte, dass jetzt, im dritten Kriegsjahr, eben mehr gestorben würde als sonst. Unsere tapferen Soldaten, aber auch die Zivilisten, hätten ihre Opfer zu bringen. Denn schließlich würde alles der großen vaterländischen Sache dienen, was den Schmerz über den Tod eines so jungen Lebens zwar nicht ausradieren, aber erträglicher machen könnte. Als Barbaras Vater, der alte Dores, die patriotischen Worte des Pastors vernahm, streckte er intuitiv das Rückgrat, richtete sich auf, und mit einem kaum wahrnehmbaren Ruck warf er den Kopf in den Nacken. Ein Reflex, der ihm während seiner Dienstzeit beim Militär in den ersten Jahren des Jahrhunderts antrainiert worden war und in besonderen Momenten heute noch überkam. So stand der alte Dores vor dem Grab seiner Jüngsten, den fein gezwirbelten Oberlippenbart gegen den üppig blauen Maihimmel und den Blick zur hoch aufstrebenden, zinnen- und zackenbekrönten Cochemer Reichsburg gerichtet. In die Erleichterung über den Tod der Tochter mischte sich kaum Trauer. Doch versuchte er, sich seine wirklichen Gefühle nicht anmerken zu lassen. Das Kind, dachte er, sei nun erlöst, und die Bürde dieser ewigen, Magdalenas Aufmerksamkeit auf sich ziehenden Mühsal von seinem Familienbetrieb genommen.
»Staub bist du, und zum Staube kehrst du zurück«, predigte der Pastor. Er ließ eine Schaufel Erde auf Barbaras kleinen Sarg niederprasseln. Im selben Augenblick spürte Magdalena einen Tritt und noch einen und danach viele energische Knuffe unter ihrer Bauchdecke.
»Der Herr aber wird dich auferwecken am jüngsten Tag«, sagte der Pastor und schlug mit der Hand das Kreuzzeichen über dem Grab.
Barbara war sieben Monate alt geworden. Ein knappes halbes Jahr nach der Beerdigung entband Magdalena einen gesunden, kräftigen Jungen, den die Eltern Vinzent nannten. Er wuchs schnell heran, war anspruchslos, folgsam und gelehrig. Als der alte Dores den munter plärrenden, neugeborenen Vinzent hinaus auf die Daljaas trug, um ihn der Herbstsonne entgegen zu recken und durch die Häuserschlucht der steil abfallenden Daljaas »Dä Vinz es do!« brüllte, dass alle Nachbarn ihn hören mussten, hatte er Barbara endgültig vergessen.
Anders seine Frau. Genau wie der elf Jahre später geborene Viereinhalbpfünder, war Barbara bei ihrer Geburt viel zu klein gewesen und hatte fast nichts gewogen. Dazu kam, dass Magdalenas Milcheinschuss auf sich warten ließ, und als er sich einstellte, entzündeten sich ihre Brüste binnen zwei Tagen dermaßen schmerzhaft, dass der alte Dores sich beknien ließ, den Arzt aus Cochem zu holen. Innerlich schimpfte er, weil er sein Geld zusammenhalten musste und hoffte, dass der Doktor sich mit zwei oder drei Litern Wein als Honorar begnügen würde. Also riss er sich zusammen ohne zu maulen, was ihm nicht oft gelang, und nahm die Fähre zum Cochemer Moselufer.
Der Arzt kam noch am gleichen Abend von Cochem nach Cond herüber. Er bat den Fährmann, auf ihn zu warten. Er müsse nur die Talstraße hinauf und beeile sich. Der Fährmann nickte, stopfte sich eine Pfeife und machte sich daran, die Angel auszuwerfen.
Der Arzt untersuchte Magdalena gründlich und murmelte, halb zu sich selbst, etwas von Mastadenitis, worauf der alte Dores ihn fragend anblickte. Eigentlich, erklärte der Arzt, müsse seine Frau dringend das Häppesje stillen, dessen Leben nur an einem seidenen Faden hinge.
»Dat Häppesje«, wiederholte der alte Dores erschrocken und senkte den Blick: »Jo, jo!«
Der Arzt hielt die Hand auf und nannte den Preis für seine Leistungen. Nein, Wein könne er nicht akzeptieren. Die Winzer wollten immer nur mit Wein bezahlen. Soviel könne er sein Lebtag nicht trinken. Also versprach der alte Dores widerwillig, ihm das Geld in der nächsten Woche in die Praxis zu bringen. »In Ordnung«, sagte der Arzt, stellte einen Becher mit Salbe sowie eine kleine Dose mit Tabletten auf den Küchentisch und erklärte dem alten Dores, wie die Medizin zu verwenden sei.
Der kleinen Barbara wurde Kuhmilch eingeflößt, gegen die sie sich wehrte. Sie war kaum dazu zu bewegen, die Milch zu schlucken. Und wenn sie doch ein wenig heruntergewürgt hatte, erbrach sie die Flüssigkeit umgehend. Erst in hohem Bogen, dann, als das Kind immer schwächer wurde, lief sie ihr wie Brei aus dem Mund. Magdalena achtete peinlich darauf, dass Barbara immer auf der Seite lag, umpolsterte sie, damit sie nicht auf dem Rücken zu liegen kam und an ihrem Erbrochenen erstickte. Morgens und abends rieb sie ihre Brüste mit der kühlenden Salbe ein, die der Cochemer Arzt verordnet hatte. Sie nahm Tabletten gegen das Fieber und bettete ihre Brustwarzen unter Schmerzen in Watte.
Der alte Dores schlug eines Tages mit der flachen Hand auf den Küchentisch, spürte unverhofft einen brennenden Schmerz in der Handfläche, was seinen Unmut noch steigerte. Es sei jetzt genug! Er sei der Meinung, dass Magdalena, da die Geburt des Mädchens doch schon Wochen, ja Monate zurück liege, endlich wieder in den Weinberg gehen könne. Die Arbeit würde sich nicht von allein machen. Es seien noch allerhand Reben aufzubinden, und in den Wingerten im Kern und unter der Brauselay wären sie noch nicht einmal geschnitten. Die Nachbarn würden schon reden! Sie wisse doch, bedrängte er seine Frau, dass er sich jetzt im Frühjahr um andere Dinge kümmern müsse, um die Felder auf dem Berg, den Garten in Kaas und vor allem um den Verkauf des Fuders Wein an private Käufer. Damit er nicht wieder, wie im vergangenen Jahr, seinen Wein für einen Appel und ein Ei an die Kellerei Ronmes verkaufen müsse.
Magdalena gehorchte. In dicke Pullover eingemummt und geschürzt querte sie am nächsten Tag auf wackligen Beinen die Daljaas, steuerte den gegenüber liegenden Schuppen am Abzweig zum Friedhofsweg an, der ebenso zum Haus gehörte, wie ein Holzverschlag mit dem Lokus dahinter. Sie griff nach einem Bündel Bast und band es sich um die Hüfte. Sie tat es in langsamen Bewegungen, wollte unbedingt vermeiden, dass die dicke, schwere Kleidung zu sehr an ihren Brüsten rieb.
Der alte Dores zog schimpfend mit einer Kuh, die er am Seil hinter sich her schleppte, die Daljaas herauf, blaffte etwas, das Magdalena galt, und verschwand mit der Kuh im Stall.
Die Frau ergriff die Deichsel des rappeligen Leiterwagens, in dem sie ihre beiden Ältesten, die schon fast dreijährige Agathe und den kleinen Dores, verstaut hatte. Warm eingemummt auch die Kinder in Wollpullover und Pluderhosen. Der Wingert unter der Brauselay lag weit vor dem Dorf. Magdalena zog mit der Karre die Daljaas hinunter zur Mosel und bei den Linden flussaufwärts bis unter die hohen Felsen der Lay. Es war nicht ungefährlich hier zu arbeiten. Immer wieder kam es vor, dass Gesteinsbrocken aus der hohen Felswand brachen und in die Weinberge hinabstürzten. Besonders nach ausgiebigen Regenfällen tat man gut daran, den Wingert erst einmal zu meiden. Magdalena parkte den Leiterwagen direkt vor der niedrigen Wingertsmauer am Nikeläsje, einem Bildstock mit der Figur des Heiligen Nikolaus. Das Bildnis stand um die Länge des Weinbergs in sicherer Distanz zur Felswand. Von dort richtete Nikolaus seit fast dreihundert Jahren seinen behütenden Blick auf den Fluss.
Zu allen Zeiten barg die Umschiffung der Brauselay auf der Mosel eine Gefahr für die Schiffer, besonders bei hohem Wasserstand. Im Jahr 1630 ertrank ein Fahrensmann namens Peter Selecus in der Nähe des Felsens in der Mosel. Mag sein, dass er die Stromschnellen vor der Brauselay unterschätzt hatte, die Gewalt über sein Schiff verlor und kenterte. Vielleicht wurde er durch die Strömung gegen einen Felsen getrieben und sein Schiff schlug leck. Genaues wusste man nicht. Von seinem Tod zeugte ein Basaltkreuz, das zu Füßen des Heiligenbildes wie in die Weinbergsmauer hineingewachsen zu sein schien. Ein in Stein gemeißeltes Gebet. Mit erhobener Hand warnte Nikeläsje, schützte und segnete all jene, die sich auf dem Wasser der Brauselay näherten.
Wenn er sich seit Jahrhunderten solche Sorgen um die Schiffer macht, dachte Magdalena, wird er wohl auch ein paar Stunden auf meine Kinder aufpassen können. Trotzdem erteilte sie der kleinen Agathe genaue Anweisungen, wie sie auf den noch kleineren Dores aufzupassen habe. Sie erhob drohend den Zeigefinger, als sie sagte, dass die Kinder der Mosel fernbleiben sollen. Außerdem könne Agathe jederzeit laut nach ihr rufen.
»Wenn ebbes es, dann reefs de.«
Die Kinder waren den Nachmittag über brav, gruben mit den Händen in der kühlen Erde und stapelten Schiefergestein zu kleinen Türmen auf. Begierig aß Agathe ihr Marmeladenbrot, und als Magdalena eine Pause einlegte, schlürfte Dores genüsslich den mitgebrachten Brei. Als es zu dämmern begann und in der Brauselay plötzlich polternde Steine zu hören waren, hatte Magdalena sämtliche Reben des Weinbergs in Form geschnitten und schon mit dem Aufbinden begonnen. Sie würde zwei weitere Nachmittage brauchen, um die Bindearbeiten, die ihr mehr Mühe machten als das Schneiden, zu beenden. Aber jetzt galten ihre Gedanken den Kindern. Sie sah, dass auf das Nikeläsje Verlass war. Dores war in den Leiterwagen gestiegen und auf der Seite eingeschlafen. Agathe lag mit Brust und Bauch an den Rücken ihres Bruders geschmiegt und summte ihm ins Ohr. Magdalena warf einen Blick auf die Steinfigur, nickte ihr zu und bekreuzigte sich. Nikeläsje hatte gute Arbeit geleistet. Doch jetzt nichts wie heim! Nach Barbara schauen, sie waschen und wickeln und hoffen, dass sie etwas Nahrung zu sich nehmen wird. Heiliger Nikolaus, bitte, hilf auch der kleinen Barbara! Als Magdalena das Dorf erreicht hatte und anhob, den Leiterwagen die Daljaas hinauf zu ziehen, schoss ihr der Schmerz, den sie am Nachmittag fast vergessen hatte, in die Brüste. Die kleine Barbara fand sie zerbrechlicher denn je und wimmernd im Weidenkorb, zu schwach um zu schreien.

 

 

 

 

zum Buch

 

Aktuelles von und
für die Presse

facebookHier gehts zu unserer Facebook-Seite, auf der immer die aktuellen Neuigkeiten zu finden sind.

linie-klein

 

Tamar Dreifuss erhält den
Giesberts-Lewin-Preis >>
 

linie-klein

 
Ute Bales ausgezeichnet mit dem Martha-Saalfeld-Förderpreis 2018 des Landes Rheinland-Pfalz für »Bitten der Vögel im Winter« >>

linie-klein

 

Alle Umschlagfotos gibt es hier >>

linie-klein

Pressetexte >>

linie-klein

Hier gibts Leseproben zu unseren Neuerscheinungen  >>

linie-klein