Literatur und Sachbuch
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»Die Welt zerschlagen«

 

Nicht mehr weit

 

Alles ist erfüllt vom tiefen Keuchen ihres Atems: der Himmel, die Häuser, die Autos und Menschen. Auch er, der sie trägt, weil ihr jede Kraft fehlt. Er hat sie in eine Decke gepackt, denn sie friert, obwohl es warm ist. Die Straße scheint unendlich und während er sie stützt, dann wieder ein Stück trägt, denkt er daran, dass sie sterben könnte und diese Gedanken erfassen ihn ganz, nehmen jeden verfügbaren Raum. Ihr eingefallenes Gesicht vor Augen geht er wie ein Schlafwandler vorwärts, sieht nicht, dass Leute von ihnen abrücken und einen Bogen machen, hört nur nach dem rasselnden Geräusch ihres Atems, nach ihrem Stöhnen und Husten, ist taub für alles andere. »Es ist nicht mehr weit. Wir haben es bald geschafft.«
In der Dürener Straße schleppt er sie in eine Straßenbahn. Die Bahn ist überfüllt. Bis zum Wallrafplatz müssen sie stehen, aber dann steigen Leute aus und er schiebt sie auf einen freien Sitz. Er kramt ein Fläschchen aus seiner Jackentasche, öffnet den Verschluss und hält es ihr vor den Mund. »Tief einatmen«, sagt er und als sie es nicht tut, packt er sie an den Schultern: »Jetzt atme doch!« Sie sitzt da, schwitzend und erschöpft, sieht auf das Fläschchen und dann aus dem Fenster. Gerüche, Gedanken, Gesichter ziehen vorbei. Die Luft hat jene bläulichweiße Klarheit, die Erde und Himmel gleich macht. Die Rasenflächen sind braun geworden von der Sonne. Kinder spielen mit einem Hund. Ein Zeitungsjunge klopft ans Fenster der Bahn. »Extrablatt! Stresemann wird Reichskanzler! Dat Allerneuste! Schon jehört? Stresemann wird Reichskanzler!« Sie blickt über den Jungen hinweg. Ihr Gesicht ist knochig und abgespannt, die Augen sind fiebrig. »Ich kann nicht mehr.« Der Platz neben ihr wird frei und er setzt sich. »So was darfst du nicht sagen.«
Am Dom steigen sie um. Sie fahren über Eigelstein und Neusser Straße. Hier sind sie früher oft gewesen und in Gedanken sieht er sie die Straßen und Plätze überqueren, das Malergepäck auf dem Rücken, heimkehren von den hellen Ufern des Rheins. Damals waren ihre Bilder bunt wie der Fluss und die Landschaft, später waren es Zeichnungen mit Bleistift und jetzt nichts mehr, nur noch der gepferchte schwere Atem und die wirre Unruhe ihres schweißbedeckten, abgemagerten Körpers. »Es ist nicht mehr weit«, flüstert er, »der Vater wartet. Er ist froh, wenn du wieder daheim bist.« Sie reagiert nicht.
An der Agneskirche steigen sie aus. Wieder muss er sie stützen, dann tragen. Eine Bäckerei atmet ihren fettigen Dampf auf die Gassen. Langröckige Talmudstudenten gehen mit Büchern hausieren. Misstrauisch sehen sie herüber. Neben einem Blumenstand trocknet jemand Fische; aufgereiht hängen sie über einer Schnur; grätige Hälften, platt und breit wie eine Hand. Aus einem hochrädrigen Kinderwagen dringt Weinen, aus einem offenen Fenster Tonleitergeklimper. Zwei Wandermusikanten mit geschulterten Blechinstrumenten kommen die Straße herauf. Sie sind vor einem Geschäft verjagt worden und beziehen jetzt Position an einem Brunnen, von wo aus sich ihre Blechtöne über der ganzen Straße entladen.
Sie hustet wieder stärker. Vor einem Laden stehen Gemüsekisten. Kurz setzt er sie ab, wischt sich den Schweiß von der Stirn. Dann legt er sich wieder ihren Arm in den Nacken, hebt sie unter den Knien und schleppt sie weiter. 40 Kilo, denkt er, wenn überhaupt.
Drei Jahre ist sie nicht zu Hause gewesen. Er hat den Vater überreden müssen, sie wieder aufzunehmen und jetzt klammert er sich an den Gedanken, dass sie dort zur Ruhe kommen und alles wieder gut werden würde. »Es ist nicht mehr weit, gar nicht mehr weit«, flüstert er, spürt, wie sie sich an seiner Jacke festkrallt, wie ihre Hände kraftlos werden und immer wieder abrutschen. Ihr Leben, das sie schon bald nicht mehr haben könnte, scheint ihm so kostbar, so unendlich vertraut und dieses Gefühl bringt eine heftige, fast absurde Zärtlichkeit mit, die er schon als Junge für sie empfunden hat. Während er so mit ihr geht, hat er plötzlich ihr Kinderlachen im Ohr. Der weiche und helle Klang macht den Himmel höher und weiter, ändert die Farben der Bäume und Häuser, er meint stehen bleiben zu müssen in der transparenten Luft: »Nur noch ein kurzes Stück, Geli. Bald sind wir da.«


Et hät noch emmer jot jejange

Am Krefelder Wall, im Hinterhof eines Mietshauses, spielen Kinder. Ein Junge in einem Matrosenanzug schöpft mit einer Konservendose Wasser aus einer Pfütze, ein anderer bohrt dünnes Gezweig in den Schlamm und gibt Kommandos: »Alles festhalten! Die Brücke kippt! Wer nicht schwimmen kann, ist tot!« Er springt auf, tritt in die Pfütze, Schlamm spritzt, kreischend fahren sie auseinander. Dann hocken sie wieder zusammen, die Köpfe aneinander, beratschlagen, erheben sich erneut, suchen Hölzer und Steine, hocken wieder zusammen, bauen einen Wall aus Schlamm. Am Tag zuvor ist die im Bau begriffene Südbrücke über den Rhein eingestürzt, hat 40 Arbeiter von den Gerüsten gerissen, von denen der Fluss vier behielt. Die Ertrunkenen beherrschen alles Denken und Tun der Kinder, die mutmaßen, wie es ist, zu ertrinken.
Zwei Mädchen sind dabei. Sie tragen helle Kittelkleider und Holzpantinen. Beide haben die langen Haare zu Zöpfen geflochten und hochgebunden. Eines von ihnen erklärt, dass es mit dem Ertrinken schnell gehe, dass sie es wisse, weil erst im Frühjahr ein Onkel ins Hochwasser geraten sei und seither nicht mehr gesehen wurde. Das andere schüttelt den Kopf. »Und woher weißt du, ob es schnell ging?« Es fasst sich an den Hals, drückt zu, fängt an zu röcheln: »Nein, man kriegt keine Luft mehr, so lange, bis die Lungen leer sind und man tot ist!« Es drückt fester und fester, bis der Kopf rot wird, die Augen hervortreten und einer der Jungen entsetzt aufspringt: »Geli! Was machst du? Hör auf damit!«

Angelika hat keine Angst. Auch nicht vor dem Ertrinken. Willy, ihr Bruder, sechs Jahre älter, erschrickt oft über das, was sie sagt und tut. Angelika ist beharrlich und unbeugsam in einer Weise, die ihn beunruhigt und ihm ständig das Gefühl gibt, sie beschützen zu müssen. Obwohl ihm ihre Waghalsigkeit, der Leichtsinn und das Trotzige fremd sind, bewundert er ihren immensen Willen. Sie hat sich das Lesen nahezu selbst beigebracht, noch bevor sie in die Schule kam, weil man ihr die Geschichten von Fipps, dem Affen, vorenthalten wollte. Sie ist oft hochfahrend und eigensinnig, stellt kuriose Fragen, bohrt nach, gibt schlagfertige Antworten, vergisst nichts. Alles was verboten ist, reizt sie: das Rutschen auf dem Treppengeländer, der abgeschlossene Bücherschrank im Wohnzimmer, das Rauchzeug des Vaters. Einem Schaukelpferd hat sie den Schweif abgeschnitten, der Heiligen Anna, abgebildet im Gebetbuch der Mutter, bunte Haare gemalt.
Als Jüngste interessiert sie sich für alles, was die Geschwister tun und meinen und macht sich eigene Gedanken. Sie sind zu viert: Maria, mit 19 die älteste, Richard, gerade 18 geworden, dann Willy, 15, und Angelika, 9.
Die Mädchen ähneln einander. Beide sind schlank und groß, haben die lockigen dunkelblonden Haare und das längliche Gesicht der Mutter. Auch an den dunklen Augen kann man erkennen, dass sie Geschwister sind. Maria arbeitet bei einer Schneiderin am Heumarkt. Dass sie nähen kann, sieht man ihr an. Ihre Kleider fallen auf. Sie ist imstande, selbst aus winzigsten Resten Schönes zu schneidern.
Willy, quirlig und an allem interessiert, mit kurz geschnittenen, seitlich gescheitelten braunen Haaren und dunklen Augen, will Möbelschreiner werden wie der Vater. Er lernt bei einem Tischler nur ein paar Straßen weiter. Richard, groß und schlaksig, mit einem dünnen Bärtchen in einem fein geschnittenen Gesicht, hat die Lehre bereits hinter sich. Er ist als Stenograf am Gericht angestellt. Seine Geschwindigkeit im Schreiben ist enorm. Keiner kann ihn einholen. Sieben Strophen von Goethes Zauberlehrling schreibt er in knapp anderthalb Minuten. …

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